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Saruter ließ Warsteins Musterung eine ganze Weile über sich ergehen, ehe er sich herumdrehte und mit dem ausgestreckten Arm nach Norden wies. »Schau hin«, sagte er. »Und sag mir, was du siehst.«

Warsteins Blick folgte der Richtung, die der Alte ihm wies. Der Anblick war tatsächlich überwältigend. Weit vor ihnen erhob sich der schneegekrönte Gipfel des Basodino, flankiert von dem niedrigeren, aber ungleich wuchtigeren Madone auf der rechten und den fast filigranen Eiskonturen des Porcarescio auf der anderen Seite. Dahinter strebten andere steinerne Kolosse in die Höhe, im Dunst der Entfernung mehr zu erahnen als zu erkennen; Berge, deren Namen er einmal gewußt und wieder vergessen hatte. Es spielte auch keine Rolle, denn es waren Namen, die Menschen ihnen gegeben hatten und die nur für Menschen von Belang waren. Diese Berge waren älter als die Menschen, älter als das Leben auf dieser Welt, und während Warstein noch dastand und nach Norden sah, wurde ihm dies zum ersten Mal wirklich bewußt.

»Verstehst du es?« fragte Saruter.

Warstein nickte. Der Anblick und der Moment hatten etwas Heiliges. Er stand einfach da und sah die Berge an, und zum ersten Mal im Leben wurde ihm bewußt, wie kostbar jeder einzelne Moment war, ganz egal, wie großartig oder auch banal er sein mochte, denn er war einmalig, jede Sekunde anders, und jede unwiederbringlich, war sie einmal verstrichen. Warstein begriff etwas vom Wesen der Zeit, in diesem Moment, etwas, das er niemals wirklich in Worte fassen konnte, das sein Leben aber grundlegender verändern sollte als irgend etwas zuvor.

»Es ist nicht richtig, was ihr tut«, sagte Saruter. »Die Berge sind alt. Sie waren schon da, bevor es Menschen auf dieser Welt gab, und sie werden noch da sein, lange nachdem wir von diesem Planeten verschwunden sind. Manche glauben, daß sie leben. Glaubst du das auch?«

Warstein war nicht sicher, ob er verstand, was Saruter meinte. »In einem gewissen Sinne ... vielleicht«, sagte er ausweichend.

»Alles lebt, in einem gewissen Sinne«, antwortete Saruter. »Die Erde, die Blumen, das Gras ... selbst die Wolken am Himmel. Aber das habe ich nicht gemeint.«

»Was dann?«

Saruters Blick ließ ihn wieder los, und er sah in die gleiche Richtung wie Warstein. Sein Gesicht lag nun halb im Schatten und halb im Licht; zur Hälfte das eines alten und zur anderen das eines jungen Mannes.

»Manche von euren Wissenschaftlern«, begann er, »glauben, daß die Bibel recht hat, und das Leben tatsächlich in einem Klumpen Lehm begann. Es heißt, daß Lehm über eine ganz besondere kristalline Molekularstruktur verfügt, in der Leben auch ohne organische Zusätze entstehen kann.«

Das waren ganz bestimmt nicht die Worte, die Warstein von einem achtzigjährigen Einsiedler erwartet hätte, der in einer Blockhütte unter dem Gipfel des Gridone hauste. Aber zugleich waren sie auch so faszinierend, daß er nicht anders konnte, als gebannt weiter zuzuhören.

»Wenn das so ist, warum soll es bei ihnen nicht ähnlich sein? Sie könnten leben. Sie könnten ein Bewußtsein und sogar ein eigenes Ego haben, jeder einzelne. Und doch würden wir es niemals bemerken. Wie soll man mit einem Geschöpf in Verbindung treten, dessen Gedanken ein Menschenalter währen? Wie mit einer Intelligenz reden, die so fremd ist, daß wir sie nicht einmal als lebende Kreatur erkennen?«

»Ist es das, was Sie mir sagen wollen?« fragte Warstein. »Daß wir sie ... geweckt haben?«

Saruter lächelte. »Es ist nur eine Theorie. Nicht einmal eine besonders originelle.«

»Aber wir haben ... etwas geweckt?« fragte Warstein stockend. »Irgend etwas war in diesem Berg, nicht wahr? Was war es?«

»Es mußte geschehen, früher oder später«, antwortete Saruter. Er sah noch immer nach Norden. Die alte Hälfte seines Gesichtes schien nun vollends zu Stein geworden zu sein. Seine Stimme war ein tonloses Flüstern, das von kommendem Unheil kündete. »Die Kelten waren stark, doch nichts hält ewig.«

»Was?« fragte Warstein. »Was ist es, Saruter? Was ist in diesem Berg?«

»Du wirst es erkennen, wenn die Zeit gekommen ist«, sagte Saruter.

»Warum sagen Sie es mir nicht?« fragte Warstein.

»Das wäre zwecklos. Die Zeit ist noch nicht reif. Aber du wirst es erkennen, wenn es soweit ist. So, wie es dich erkennen wird.«

»Es? Welches es?«

»Du wirst es wissen, sobald es notwendig ist«, erwiderte Saruter. Und das war das letzte, was Warstein an diesem Tag von ihm erfuhr.

5

Er hatte geglaubt, nicht wirklich geschlafen zu haben, aber als er die Augen das nächste Mal öffnete, war die Leuchtanzeige über ihren Köpfen wieder angegangen, die sie aufforderte, sich anzuschnallen, und die Stimme des Piloten teilte ihnen mit, daß sie sich im Landeanflug auf Genf befanden und in ungefähr zehn Minuten dort ankommen würden.

Als nächstes begegnete er Lohmanns feindseligem Blick. Der Reporter saß ihm gegenüber und versuchte, eine Zigarette in den überquellenden Aschenbecher in seiner Armlehne zu drücken. Der Sitz neben ihm und seine Hosenbeine waren voller Asche. Er zündete sich sofort eine neue Zigarette an, öffnete plötzlich seinen Sicherheitsgurt und stürmte mit weit ausgreifenden Schritten davon.

»Was ist denn in den gefahren?« Warstein blickte ihm kopfschüttelnd nach.

»Ich glaube, er sieht seine Investition in Gefahr«, sagte Angelika. »Er war ziemlich verärgert, daß du eingeschlafen bist. Das geht doch in Ordnung, oder? Ich meine, wenn wir schon einmal beim Du sind, können wir genausogut dabei bleiben.«

»Das ist schon okay«, sagte Warstein. »Immerhin sind wir gemeinsam aufgebrochen, um die Welt zu retten.«

»Sind wir das?«

»Zweifellos«, antwortete Warstein ernsthaft. »Wir werden phantastische Abenteuer erleben. Ungeheuer aus der siebten Dimension. Außerirdische, die gekommen sind, um die menschliche Zivilisation zu vernichten und die Überlebenden in die Sklaverei zu verschleppen.«

»Die Gespenster nicht zu vergessen«, sagte Angelika.

»Unbedingt«, bestätigte Warstein. »Vampire und Werwölfe. Wußtest du, daß es auf dem Gridone nachts von Hexen nur so wimmelt, die auf ihren Besen um den Gipfel kreisen?«

Sie lachten, und obwohl es nur eine Sekunde währte, gab es ihnen beiden neue Kraft. Eine Weile saßen sie einfach schweigend nebeneinander, in einer vertrauten Stille, als ob sie sich tatsächlich schon seit Jahren kannten, nicht erst seit weniger als vierundzwanzig Stunden. Seine Hand wollte nach ihrer greifen, die auf der Armlehne neben ihm lag, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende. Trotzdem bemerkte sie sie, sah kurz zu ihm hoch und lächelte, so daß er fast sicher war, daß sie nichts dagegen gehabt hätte. Nach einigen Sekunden ließ ihr Blick ihn los, und Warstein drehte den Kopf zur anderen Seite und zwang sich, aus dem Fenster zu sehen.

Obwohl sie sich bereits im Landeanflug befanden und ständig an Höhe verloren, sah er nichts außer vorüberhuschenden Fetzen aus Grau und schmuddeligem Weiß. Das Wetter mußte umgeschlagen sein, während er geschlafen hatte.

»Vorhin«, sagte Angelika plötzlich, »als wir eingestiegen sind ... warum hast du da gezögert?«

Es wäre leicht gewesen, seine Flugangst vorzuschieben, und er wußte, daß sie es geglaubt oder zumindest dabei belassen hätte. Aber er wollte sie nicht belügen. So scherzhaft seine Bemerkung gerade geklungen haben mochte, sie hatte einen wahren Kern: was immer in Ascona auf sie wartete, er spürte, daß es etwas Gewaltiges war. Sie waren auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Ehrlichkeit war wichtig.

»Ich weiß nicht genau«, sagte er ausweichend. »Ich glaube, irgend etwas ... wird passieren.«