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»Hier ist sie«, sagte Mariella hinter ihm. Ihre Stimme klang hörbar erleichtert. »Zieh sie gleich an.«

»Sofort.« Mario richtete sich auf, um sich zu ihr umzuwenden - und erstarrte mitten in der Bewegung. Die Wolkenfront raste heran, zehnmal schneller, als Mario dies überhaupt für möglich gehalten hätte. Sie hatte ihre Form verändert und bildete nun ein asymmetrisches Dreieck, das einen tintenschwarzen Schatten auf dem Wasser hinter sich herzog. Mario verlängerte den Kurs dieses Schattens in Gedanken und stellte voller Schrecken fest, daß die Spitze des Dreiecks genau auf ihr Boot zu deuten schien. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis es sie erreicht hatte.

»Was ist das?« flüsterte Mariella. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, war der fröhliche Ton aus ihrer Stimme gewichen und hatte echter Furcht Platz gemacht. »Das ... das ist doch kein normaler Sturm!«

Tief in sich glaubte Mario das auch nicht mehr, aber der Teil von ihm, der rationalem Denken und Logik verhaftet war, gestattete es dem Rest noch nicht, irgendeine andere Erklärung zu akzeptieren. Er wußte einfach nicht, was es war, das da mit der Geschwindigkeit eines D-Zuges auf sie zuraste, aber das spielte eigentlich auch keine Rolle. Es machte ihm angst, und das war alles, was im Moment zählte.

Statt vollends zu Mariella hinzutreten und die Schwimmweste zu nehmen, die sie in Händen hielt, wandte er sich wieder um und beugte sich erneut über den Motor. Es ist genau wie beim Auto, Signore. Er erinnerte sich jetzt wieder. Wenn er nicht anspringt, ziehen sie einfach den Choke.

Seine tastenden Finger fanden den kleinen Hebel und zogen ihn heraus. Augenblicklich griff er nach dem Starterkabel und riß mit aller Gewalt daran. Der Motor spuckte, stotterte, stieß eine übelriechende blaue Qualmwolke aus und sprang an.

»Gott sei Dank!« Mario richtete sich auf, wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und drehte sich wieder zu Mariella um. »Jetzt aber nichts wie weg hier.«

Die Wolkenfront war heran und schob sich wie ein Keil aus Dunkelheit über die linke Hälfte des Himmels, und den Bruchteil einer Sekunde danach erreichte ihr Schatten das Boot.

Es war ein gespenstischer Anblick. Marios Schätzung war genau richtig gewesen: der Schatten traf das Boot genau in der Mitte und zerschnitt es in zwei Hälften. Das Heck mit dem Motor und Mario blieb weiter im hellen Sonnenlicht, während der vordere Teil, in dem sich Mariella befand, für eine Sekunde einfach zu verschwinden schien. Die Dunkelheit war so intensiv, daß er sie nicht einmal mehr als Schatten erkennen konnte. Vor ihm erhob sich eine schwarze Mauer, die die Hälfte des Sees, die Hälfte des Bootes und seine geliebte Mariella einfach verschlungen hatte. Und vor ihm lag nicht einfach nur Dunkelheit. Die Schwärze war massiv. Der Wind brach sich daran und schlug ihm plötzlich ins Gesicht. Und das Gespenstischste von allem war vielleicht die Stille. Die heranrasende Wolkenwand und die Schatten assoziierten die Erwartung von heulenden Sturmböen und rollendem Donner, aber er hörte nichts, nicht einmal den mindesten Laut, so als hielte vor diesem Phänomen selbst die Natur den Atem an.

Genau eine Sekunde lang. Dann, so schnell wie er gekommen war, war der Schatten vorbei, die Wolken am Himmel tobten weiter und näherten sich dem gegenüberliegenden Ufer des Sees, und die Dunkelheit gab die vordere Hälfte des Bootes und Mariella wieder frei.

Im gleichen Moment wurde das Boot von einem unvorstellbar heftigen Schlag erschüttert. Mario fühlte sich gepackt und in die Höhe gewirbelt, und noch während er, sich drei- oder viermal um seine Achse drehend und dabei überschlagend, ins Wasser geschleudert wurde, sah er, wie die vordere Hälfte des Boots regelrecht pulverisiert wurde. Etwas traf Mariella und schleuderte sie über Bord, das Holz zersplitterte wie von Hammerschlägen getroffen, und dann stürzte er ins Wasser und wurde von der gleichen unsichtbaren Gewalt, die ihn in die Höhe gerissen hatte, meterweit in die Tiefe gedrückt.

Mario schrie vor Schmerz und Todesangst. Das bißchen Luft, das er noch gehabt hatte, stieg als silberne Perlenkette vor seinem Gesicht in die Höhe, während er immer noch tiefer und tiefer sank und sich dabei weiter um seine Achse drehte. Etwas Großes, Gelbes wirbelte an ihm vorüber und verschwand, dann traf ein Trümmerstück des Bootes seine Rippen, und es war vermutlich der Schmerz, der ihm das Leben rettete. Die Planke brach ihm zwei oder drei Rippen und riß eine tiefe, blutige Wunde in seine Flanke. Der plötzliche Schmerz war so entsetzlich, daß sich jeder einzelne Muskel in seinem Körper verkrampfte. Das Wasser, das in seine Lungen dringen wollte, kam nicht weit genug, um ihm zu schaden, und er hörte auf, in Panik um sich zu schlagen und sich damit immer noch weiter in die Tiefe zu schaufeln.

Vor seinen Augen tanzten bunte Kreise, als er wieder an die Oberfläche kam. Statt tödlichem Naß war plötzlich kalte Luft auf seinem Gesicht, und obwohl er halb bewußtlos war, erledigte sein Selbsterhaltungstrieb den Rest. Seine verkrampfte Halsmuskulatur löste sich, und seine Lungen saugten sich gierig voller Luft, ehe er unterging.

Irgendwie gelang es ihm trotz allem, der Panik Herr zu werden. Mario begann mit den Beinen zu strampeln und machte ungeschickte Schwimmbewegungen mit beiden Armen, die ihn mehr durch Zufall denn aus irgendeinem anderen Grund nach oben brachten. Erneut durchstieß er die Wasseroberfläche, rang keuchend nach Luft und griff blindlings zu, als er etwas direkt vor sich auf dem Wasser treiben sah.

Es war ein Stück des zerbrochenen Bootes, vielleicht sogar die gleiche Planke, die ihn um ein Haar aufgespießt hätte. Sie war zerborsten. Das Holz sah wie verbrannt aus und drohte unter seinen Fingern auseinanderzubrechen, aber es besaß trotzdem genug Auftrieb, um ihn zu tragen.

Sekundenlang klammerte sich Mario mit aller Gewalt an die Planke und tat nichts anderes, als zu atmen und sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er noch lebte. Der Schmerz in seiner Seite war so grausam, daß ihm übel wurde. Er blutete heftig. Das Wasser in seiner unmittelbaren Nähe begann sich rosa zu färben. Aber er durfte nicht aufgeben. Mariella. Sie war über Bord geschleudert worden und vielleicht bewußtlos. Er mußte ihr helfen.

Mühsam hob er den Kopf und sah sich um. Das Boot trieb nur wenige Meter neben ihm auf dem Wasser und begann bereits zu sinken. Der hintere Teil war nahezu unbeschädigt, aber die vorderen zwei Meter waren einfach nicht mehr da. Irgend etwas hatte es regelrecht in zwei Teile geschnitten; die Bruchstelle war so glatt, als wäre das Schiff von einem Schwerthieb getroffen und gespalten worden. Mario überlegte einen Moment, ob es vielleicht ein anderes Schiff gewesen war, das sie gerammt hatte. Aber das war unmöglich. Ein Schiff, das groß genug war, um so etwas anzurichten, hätte er gesehen, trotz des Unwetters und der Dunkelheit, und vor allem, er hätte es jetzt sehen müssen, denn seit der Katastrophe war noch nicht einmal eine Minute vergangen. Aber der See war leer.

Neben ihm sank die hintere Hälfte des Boots immer schneller, vom Gewicht des Außenbordmotors in die Tiefe gezogen, und als es vollends verschwunden war, entdeckte er Mariella. Sie trieb mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser und regte sich nicht.

Wieder drohte ihn die Panik zu übermannen, aber es gelang Mario noch einmal, sie zurückzudrängen. Langsam, aber mit sehr kraftvollen Bewegungen begann er Wasser zu treten und sein improvisiertes Floß in Mariellas Richtung zu drehen. Jede Bewegung bereitete ihm furchtbare Schmerzen, aber zugleich hielt ihn diese Pein auch wach, und auf eine absurde Weise gab sie ihm auch Kraft. Er ersparte es sich, nach Mariella zu rufen. Wäre sie in der Lage gewesen, darauf zu reagieren, hätte sie seine Hilfe kaum gebraucht. So verwandte er jedes bißchen Kraft, das er noch hatte, darauf, auf sie zuzupaddeln. Er kam nicht besonders schnell voran, aber sie war auch nicht sehr weit entfernt - sieben, acht Meter, allerhöchstens. In ihrer Öljacke hatte sich eine Luftblase gebildet, die sie daran hinderte, unterzugehen. Wenn er sie erreichte, ehe sie ertrunken war, konnte er sie herumdrehen und einfach festhalten, bis sie das Bewußtsein zurückerlangte oder Hilfe kam. Mario war sicher, daß der Unfall vom Ufer aus beobachtet worden war. Sicher war Hilfe schon unterwegs. Es mußte einfach so sein.