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Auf halber Strecke trieb ihm etwas leuchtend Orangerotes entgegen. Die Schwimmweste! Er griff mit einer Hand danach, bekam sie zu fassen und hätte sein Geschick um ein Haar mit dem Leben bezahlt, denn die Weste zerfiel unter seinen Fingern, und beinahe hätte er den Halt an seinem Holz verloren. Er ging unter, schluckte Wasser und kam hustend wieder an die Oberfläche. Hastig klammerte er sich wieder mit beiden Händen an die Planke und starrte schockiert auf das herab, was einmal eine Schwimmweste gewesen war. Der imprägnierte Leinenstoff war zerfetzt, so mürbe, als hätte er hundert Jahre im Wasser gelegen. Die Kunststoffüllung quoll in großen, verrotteten Fetzen heraus, und die metallenen Schnallen waren vollkommen verrostet.

Mario schwamm weiter. Noch drei Meter. Mariella rührte sich immer noch nicht. Wie lange konnte ein Mensch mit dem Gesicht nach unten im Wasser treiben, ohne zu ertrinken? Eine Minute? Zwei? Und wie lange trieb sie schon im Wasser?

Als er sie fast erreicht hatte, gewahrte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Ein Schnellboot raste auf sie zu, in seinem Bug standen die Schatten zweier Männer, von denen einer einen Rettungsring in den Händen hielt. Der andere machte sich bereit, über Bord zu springen. Aber sie würden zu spät kommen, so schnell sie auch waren.

Mario raffte noch einmal alle Kraft zusammen, die er in seinem geschundenen Körper fand, stieß sich ein letztes Mal mit den Beinen ab und erreichte die reglose Gestalt im Wasser. Er ließ seinen Halt los, griff mit beiden Händen zu und drehte Mariella mit einem Ruck herum. Die Luftblase, die sie bisher über Wasser gehalten hatte, entwich aus ihrer Jacke, und sie begann fast augenblicklich unterzugehen. Rasch griff er mit einer Hand wieder nach seiner Planke, während er mit der anderen ihren Kopf zu stützen versuchte, so daß wenigstens ihr Gesicht über Wasser blieb und sie atmen konnte. Das Holz begann unter seinem Griff zu zerkrümeln, und er spürte, wie sich seine Muskeln wieder verkrampften. Er würde diese Anstrengung nicht lange durchstehen. Aber das mußte er auch nicht. Das Boot war heran. Der Mann am Steuer bremste es in einer engen Kurve ab, schnell und so geschickt, daß die dabei entstehenden Wellen von Mariella und ihm weggelenkt wurden, statt über ihnen zusammenzuschlagen, und fast im gleichen Moment sprangen die beiden Männer über Bord und begannen auf sie zuzukraulen.

Mario bemerkte nichts davon.

Er starrte ungläubig auf das Gesicht, das von schwebendem weißem Haar eingerahmt vor ihm im Wasser trieb.

Er fühlte nicht einmal Entsetzen. Oder vielleicht doch, aber wenn, dann war es zu groß, als daß er es in diesem Moment als das zu erkennen vermochte, was es war. Alles, was er empfand, war eine unglaubliche Leere, so groß, daß seine Gedanken darin zu versinken drohten wie in einem bodenlosen Abgrund. Es war nicht Mariella. Sie trug ihre gelbe Öljacke. Der schwarze Badeanzug darunter war der Mariellas, und das goldene Kreuz, das an einer dünnen Kette um ihren Hals hing, war das, das er ihr vor vier Tagen zur Hochzeit geschenkt hatte.

Aber es war nicht Mariella. Sie konnte es nicht sein, denn der Leichnam, den Mario in den Armen hielt, war der einer uralten Frau.

»Dieser verdammte Mistkerl hat mir die Hand gebrochen!« Lohmanns Stimme klang weinerlich - diesmal. Er hatte die gleiche Behauptung in der letzten Stunde mindestens zehnmal aufgestellt, wobei er mal zornig, mal rachelüstern und mal weinerlich klang. Warstein hatte das Gefühl, daß er es in vollen Zügen genoß, zu leiden. »Aber dafür wird er bezahlen, das schwöre ich. Ich werde mir diesen Herren ganz besonders gründlich anseh - au! Verdammt, passen Sie doch auf!« Lohmann zog mit einem Ruck seine Hand zurück und funkelte Angelika an, die zum dritten Mal vergeblich dazu angesetzt hatte, ihm einen Verband anzulegen. »Wissen Sie überhaupt, wie weh das tut?!«

Angelika seufzte, bückte sich nach dem Ende der Mullbinde, die sie fallengelassen hatte, und zog Lohmanns Hand unsanft wieder zu sich heran. »Ich glaube schon«, antwortete sie. »Außerdem ist die Hand nicht gebrochen. Nur gequetscht. Aber wenn es Sie beruhigt: so etwas ist meistens schmerzhafter als ein glatter Bruch.«

»Was Sie nicht sagen!« maulte Lohmann. Er biß die Zähne zusammen, während Angelika erneut versuchte, seine Hand zu bandagieren, hielt aber jetzt wenigstens still; obwohl sie alles andere als sanft mit ihm umsprang. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da tun?« fragte er mißtrauisch.

»Ich bin ausgebildete Krankenschwester«, antwortete Angelika. »Und jetzt halten Sie endlich still. Es sei denn, Sie legen Wert darauf, daß ich von vorne anfange. Wenn so ein Verband nicht richtig sitzt, richtet er mehr Schaden als Nutzen an.«

»Krankenschwester?« vergewisserte sich Lohmann. »Wirklich?«

»Es ist schon ein paar Jahre her, aber ich habe das alles mal gelernt«, antwortete sie. »Ich dachte, Sie wissen alles über mich?« Sie hatte den Verband fertig angelegt, verknotete die Enden und versetzte Lohmanns Hand einen leichten Klaps, auf den dieser mit einem keuchenden Schmerzlaut reagierte. »So. Fertig. Sie werden sehen, in einer Woche spüren Sie nichts mehr.«

Lohmann gab sich alle Mühe, sie mit Blicken zu durchbohren, erntete aber nur ein schadenfrohes Grinsen von Angelika. Schließlich stand er auf und stürmte mit zornigen Schritten davon; vermutlich, um sich einen neuen Drink an der Bar zu holen. Seit sie das Flughafenrestaurant betreten hatten, hatte er drei doppelte Cognacs heruntergestürzt, als wäre es Mineralwasser. Warstein blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Erstaunlich«, sagte er. »Ein Kerl wie ein Baum, und er stellt sich an, als hätte man ihn gepfählt.«

»Das sind meistens die Schlimmsten«, sagte Angelika. Sie lachte. »Von dieser Verwundung kann er ganz stolz noch seinen Enkeln erzählen.«

»Bestimmt«, sagte Warstein. »Und ich gehe jede Wette ein, dann sind es vier riesenhafte Schläger, gegen die er sich heroisch zur Wehr gesetzt hat, bis ihn ein fünfter hinterrücks niedergeschlagen hat.« Er schüttelte den Kopf. »Wie bist du nur an diesen schrägen Vogel gekommen?«

»Gar nicht«, antwortete Angelika. »Er hat mich angesprochen. Irgendwie hat er mitbekommen, daß ich Frank gesucht habe, und natürlich hat er eine große Geschichte gewittert. Ich kann es mir nicht leisten, wählerisch zu sein. Außerdem«, fügte sie nach einem kurzen, nachdenklichen Schweigen hinzu, »glaube ich nicht, daß er so schlimm ist, wie er tut. Ich glaube, er spielt nur den Trottel. Vielleicht ist das seine Masche.«

»Wenn, dann spielt er sie sehr überzeugend«, sagte Warstein. Er nippte an seinem Kaffee und verzog das Gesicht. Das Zeug hatte schon heiß nicht geschmeckt, und jetzt war er halb kalt. Er fragte sich, warum es anscheinend auf keinem Flughafen der Welt einen guten Kaffee zu trinken gab.

Vielleicht lag es auch mehr an ihm als an dem Getränk. Es war jetzt fast Mittag, und er hätte mittlerweile seine rechte Hand für ein Glas Bier gegeben.

»Das war also der berühmte Dr. Franke«, sagte Angelika plötzlich. Warstein schwieg. Er hatte die ganze Zeit darauf gewartet, daß sie davon anfing, aber nun wußte er nicht, was er sagen sollte.

»Ich muß gestehen, ich bin überrascht. Ich habe eine Menge über ihn gehört, aber so habe ich ihn mir doch nicht vorgestellt.«

»Ich auch nicht«, sagte Warstein. Angelika sah ihn erstaunt an, und Warstein gewann noch einmal ein paar Sekunden, indem er wieder von seinem kalten Kaffee trank. Aber er wußte auch, daß er nicht ewig ausweichen konnte.

»Dieser bühnenreife Auftritt paßt überhaupt nicht zu ihm«, fuhr er fort. Er stellte die Tasse zurück und schob sie mit leicht angeekeltem Gesichtsausdruck ein Stück von sich fort. »Das ist nicht seine Art. Franke hat überhaupt keine Skrupel, jemanden fertigzumachen. Ich glaube, er hätte nicht einmal Hemmungen, jemanden umzubringen, wenn es sein müßte. Aber nicht so. Er hat andere Methoden, jemanden kaltzustellen. Unauffälliger, aber genauso wirksam.«