Выбрать главу

»Ich glaube, ich verstehe jetzt, was Sie meinen«, murmelte er.

»So?« sagte Franke leise. »Das glaube ich nicht.«

Normalerweise hätte Rogler diese Art der Antwort verärgert. Jetzt machte sie ihn nur hellhörig. Er war es gewohnt, mehr aus den Worten seiner Gesprächspartner herauszuhören, als diese meistens ahnten; und er hatte dabei eine ziemlich große Trefferquote. Was er aus Frankes Antwort schloß, war zweierlei: erstens, daß der Deutsche ihn insgeheim verachtete (was Rogler nicht weiter störte - daran war er gewöhnt), und zweitens, daß er mehr wußte, als er zugab. Vielleicht nicht einmal viel, aber er wußte etwas.

Sie gingen weiter, sehr viel langsamer als nötig gewesen wäre, trotzdem aber fast schneller als Rogler lieb war. Er begann sich immer unwohler zu fühlen, je näher sie dem Zug kamen. Der tote Stahlkoloß schien eine Art körperloser Kälte auszustrahlen, die Roglers Unbehagen immer stärker werden ließ. Er sah immer mehr Anzeichen von Alter und Verfall, je weiter sie sich dem Zug näherten. Die großen Eisenräder waren so verrostet, daß sich Rogler kaum vorstellen konnte, wie sie sich überhaupt hatten bewegen können. Ein Spinnennetz von Rissen und Sprüngen überzog die Scheinwerfer an der abgeschrägten Vorderseite, und auch die linke Seite des Triebwagenfensters war geborsten; der ganze Zug sah dadurch asymmetrisch aus. Der Eindruck, den er von weitem gehabt hatte, war richtig gewesen. Die Farben waren zwar verblaßt, aber der lichtschluckende graue Schleier, der den gesamten Zug bedeckte, war nichts anderes als Staub, der im Laufe von Jahrhunderten zu einer fast fingerdicken Kruste zusammengebacken war.

»Wie sieht es drinnen aus?« fragte Rogler. Franke machte eine einladende Geste auf die Lok. Die Tür an der linken Seite stand offen, dahinter glomm das blasse Licht eines Scheinwerfers, dessen Kabel sich aus der Tür heraus und in den Triebwagen auf dem anderen Gleis ringelte. Jemand hatte eine Aluminiumleiter gegen den Zug gelehnt, und als Rogler an ihr emporblickte, wußte er auch, warum. Die verchromten Handgriffe neben der Tür waren verschwunden. An ihrer Stelle gähnten zwei ausgezackte rotbraune Wunden.

»Seien Sie vorsichtig«, sagte Franke, während Rogler die Leiter hinaufzusteigen begann. »Fassen Sie nichts an.«

Rogler ersparte sich den Hinweis, daß er Polizist war und wußte, wie er sich in einer solchen Situation zu verhalten hatte. Aber er schrieb Franke in Gedanken zwei weitere Minuspunkte an. Irgendwie wurde ihm der Deutsche dadurch beinahe sympathischer. Er hatte ihn von Anfang an nicht besonders gemocht, und der Umstand, daß sich seine Vorurteile zu bestätigen schienen, erfüllte ihn mit einer gewissen Befriedigung.

Das Innere der Lok entsprach nicht Roglers schlimmsten Befürchtungen - es übertraf sie bei weitem. Dabei hielten sich die Zerstörungen hier in erstaunlichen Grenzen. Das Führerhaus, das im übrigen überraschend groß und komfortabel konzipiert war, schien nahezu unbeschädigt. Aber wenn der Zug von außen alt ausgesehen hatte, dann mußte er für das, was er hier sah, ein neues Wort erfinden.

Die Scheiben waren so schmutzig, daß man nicht mehr hindurchsehen konnte. Der hell erleuchtete Tunnel draußen war verschwunden, nur hier und da drang noch ein blasser Schimmer durch einen Kratzer oder einen Riß. Unmittelbar über dem Leitstand hatte jemand offensichtlich versucht, eine Stelle frei zu wischen. Ohne Erfolg. Der Staub, der sich als schlieriger grauer Film über jeden Quadratzentimeter hier drinnen gelegt hatte, schien tatsächlich zur Härte von Beton erstarrt zu sein.

Vielleicht war das das Unheimlichste überhaupt. All diese technischen Wunderwerke, die Computer und Apparate, die Sensoren und Meßgeräte schienen versteinert. Rogler hatte plötzlich das absurde Gefühl, sich im Inneren eines prähistorischen Computers zu befinden. Sie hatten eines von Dänikens Raumschiffen ausgegraben, nach fünf- oder auch zehntausend Jahren, die es im bolivianischen Dschungel gelegen hatte. Es war ein ebenso irrwitziger wie angstmachender Gedanke. Rogler wäre fast wohler gewesen, tatsächlich Anzeichen von gewaltsamer Zerstörung vorzufinden.

Er hörte ein Geräusch hinter sich und erkannte Franke, der schnaufend die Leiter hinaufgestiegen kam und sich unter der Tür aufrichtete. Brenner und Machen waren draußen stehengeblieben und unterhielten sich leise.

Rogler deutete auf die staubüberkrusteten Geräte hinter sich. »Gibt es so etwas wie einen Fahrtenschreiber oder ein Bordbuch?« fragte er.

»Beides«, antwortete Franke, »und das gleich mehrfach. Jedes Wort, das hier drinnen gesprochen wird, wird elektronisch aufgezeichnet, ebenso wie jede Schaltung und jeder Handgriff, den der Lokführer oder der Computer vornehmen. Der Zug hat eine Black Box - genau wie ein Flugzeug.«

»Das heißt, Sie können feststellen, was hier passiert ist?«

»Nein«, antwortete Franke.

»Aber gerade haben Sie gesagt...«

»...daß dieser Zug das Modernste ist, was es jemals auf dieser Seite des Pazifiks gegeben hat«, unterbrach ihn Franke mit einem leicht schiefen Grinsen. »In diesem Fall dürfte sich das leider als Bumerang erweisen.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf eine Anordnung nebeneinanderliegender Tastaturen und Bildschirme. »Ich werde mich hüten, hier irgend etwas anzufassen. Wir haben einige unserer Spezialisten angefordert, die sich darum kümmern werden. Aber ich gehe jede Wette ein, daß sie nichts finden.« Er seufzte. »Alles wird elektronisch gespeichert; auf Festplatte oder Speicherchip abgelegt. Aber so, wie es hier aussieht, hat die Anlage keinen Strom mehr. Der Generator ist ausgefallen.«

»Und es gibt keine Batterien?«

»Es gab sie«, bestätigte Franke. »Ich habe sie mir angesehen. Sie sind nicht nur leer, sie sind praktisch nicht mehr vorhanden. Wußten Sie, daß eine Batterie sich in Nichts auflöst, wenn man sie nur lange genug stehenläßt?«

»Wie lange?« hakte Rogler nach.

Franke zögerte. »Die Siliziumzellen in diesen Geräten hier?« Er zuckte mit den Achseln. »Fünfhundert Jahre? Vielleicht auch nur zweihundertfünfzig - wer weiß? Niemand hat es je ausprobiert, wissen Sie? Natürlich werden sich unsere Spezialisten jede Schraube hier drinnen einzeln vorknöpfen, aber Sie sollten sich besser keine allzugroße Hoffnung machen, daß das etwas bringt.«

Die hatte Rogler ohnehin nicht gehabt; nicht nach dem, was er gesehen hatte. Man mußte nichts von Technik verstehen, um zu erkennen, wenn etwas unwiderruflich kaputt war.

Allein mit Franke begann er sich unbehaglich zu fühlen und sah wieder zum Eingang. Die beiden anderen standen noch immer neben dem Gleis und redeten. Sie machten keine Anstalten, zu ihnen hereinzukommen.

Franke registrierte seinen fragenden Blick und schüttelte den Kopf. »Nur wir beide«, sagte er. »Was wir zu besprechen haben, geht nur Sie und mich etwas an - jedenfalls im Moment.«

»Sie wissen also doch, was hier passiert ist«, sagte Rogler.

»Nein«, antwortete Franke. Er sah ihm dabei fest in die Augen, und diesmal fiel es Rogler schwer, ihm nicht zu glauben. »Aber es gibt ein paar ... nennen wir es Theorien. Ziemlich wilde Theorien, wie ich zugeben muß. Man soll den Gerüchten nicht noch neue Nahrung geben, nicht wahr?«

»Was für Theorien?« fragte Rogler.

»Sie würden sie nicht verstehen«, antwortete Franke. Er lächelte für eine Sekunde und fügte dann hastig und mit einer wedelnden Handbewegung hinzu: »Ich wollte Sie nicht beleidigen. Aber ich verstehe sie selbst nicht. Wenn ich versuchen würde, es Ihnen zu erklären, würde ich wahrscheinlich nur Unsinn reden.«

Das wiederum verstand Rogler sehr gut. Wenn irgendeine wissenschaftliche Theorie existierte, um den Umstand zu erklären, daß ein kompletter Eisenbahnzug binnen weniger Stunden um mindestens ebensoviele Jahrhunderte altert, dann gab es wahrscheinlich auf der ganzen Welt nur drei Leute, die sie verstanden - und dazu gehörte er ganz gewiß nicht. Er mußte die Antwort auf all diese Fragen im Grunde auch jetzt noch gar nicht haben. Seine Art, die Dinge anzugehen, war anders. Rogler hatte es sich angewöhnt, nicht immer sofort nach einer Erklärung zu fragen, sondern sich zuerst die Fakten anzusehen, ganz gleich, wie eindeutig oder verwirrend sie auch sein mochten. Aber sein Ärger auf Franke war mittlerweile einfach zu groß, als daß er ihn noch vollständig unterdrücken konnte.