»Beantworten Sie mir eine Frage, Doktor Franke«, sagte er, wobei er den akademischen Titel seines Gegenübers so übermäßig betonte, daß er schon fast einer Beleidigung gleichkam. »Wenn Sie glauben, daß ich von all dem hier doch nichts verstehe, und wenn Sie - wie ich übrigens auch, nebenbei bemerkt, der Meinung sind, daß das hier kein Fall für die Polizei ist, was tue ich dann überhaupt hier?«
Sein herausfordernder Ton schien Franke zu amüsieren. »Sie enttäuschen mich nicht, Rogler«, sagte er. »Sie scheinen wirklich so gut zu sein, wie man behauptet. Das gibt mir Grund zu der Hoffnung, daß Sie auch verstehen werden, warum ich darum gebeten habe, mit jemandem wie Ihnen reden zu können.«
»Jemandem wie mir?«
»Einem Polizisten«, antwortete Franke. »Einem guten Polizisten. Man hat mir versprochen, den besten Mann zu schicken, der in der Kürze der Zeit greifbar ist. Sind Sie es?«
»Ich denke schon«, antwortete Rogler. Falsche Bescheidenheit hatte nie zu seinen Fehlern gehört. Er war gut, und er wußte es. »Aber ich bin nicht sicher, ob ich der richtige Mann für das hier bin. Vielleicht hätten Sie lieber nach Erich von Däniken schicken sollen. Oder Butlar.«
Franke zog die linke Augenbraue hoch; ob als Reaktion auf seinen sarkastischen Ton oder aus Verwunderung darüber, daß ihm diese Namen so glatt von den Lippen kamen, vermochte Rogler nicht zu sagen. Er griff in die Jackentasche, zog Zigaretten und Feuerzeug heraus und begann zu rauchen, ehe er antwortete. Rogler bot er keine Zigarette an.
»Gerade um uns vor solchen Leuten zu schützen, sind Sie hier, Herr Rogler«, sagte er dann. »Kommen Sie - ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Er schnippte seine eben erst angezündete Zigarette aus der Tür - sie hätte um ein Haar Machen getroffen, der sich mit einem hastigen Schritt in Sicherheit brachte und Franke einen vorwurfsvollen Blick nachschickte - und trat auf eine schmale Tür am hinteren Ende der Fahrerkabine zu. Rogler erlebte eine Überraschung, denn die Tür begann vor ihm zur Seite zu gleiten, wenn auch mit einem erbärmlichen Quietschen und alles andere als schnell - aber sie öffnete sich. Die Erklärung für dieses kleine Wunder gewahrte er jedoch schon im nächsten Augenblick. Auf dem Gang direkt dahinter stand eine Autobatterie, von der sich zwei daumendicke Kabel zur Wand hinaufringelten.
»Deutsche Wertarbeit«, erklärte Franke grinsend, als er sein Stirnrunzeln bemerkte. »Ein bißchen Strom, und alles funktioniert wieder. Sogar nach zehntausend Jahren noch.«
Rogler tat ihm nicht den Gefallen, auf den Scherz zu reagieren. Ihm war nicht nach Lachen zumute. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, Entsetzen zu empfinden. Staub, Alter und Zerfall waren hier ebenso allgegenwärtig wie im Führerhaus der Lok, vielleicht noch mehr, denn das vergleichsweise winzige Führerhaus war sicher gleich nach der Katastrophe verlassen worden. Die beiden Waggons nicht. Und die gewaltsame Zerstörung, nach der er dort vergeblich gesucht hatte - hier sah er sie. Mehr sogar, als ihm lieb gewesen wäre.
Das Innere der beiden Waggons bestand fast vollständig aus Glas oder transparenten Kunststoffmaterialien, und es waren genug Scheinwerfer hereingebracht worden, um den Zug bis zum jenseitigen Ende überblicken zu können. Die beiden Wagen glichen einem Schlachtfeld. Die Sitzpolster waren zerfetzt, einige Sessel samt ihrer Halterung aus dem Boden gerissen worden. Fast alle Trennwände waren zerborsten. Mehrere Fenster waren zerschlagen, und Roglers geübter Polizistenblick verriet ihm sofort, daß es von innen geschehen war, nicht etwa, um der Rettungsmannschaft Einlaß zu gewähren. An vielen Stellen war die Wandverkleidung auf- oder gleich ganz heruntergerissen, und etwa auf halber Höhe des Zuges gähnte ein fast mannsgroßes Loch in der Decke, in dem die rostigen Stahlträger der Rumpfkonstruktion sichtbar wurden. Und auch hier lag über allem eine graue, spröde Schicht aus zu Stein gewordenem Staub.
»Was hier geschehen ist, kann ich Ihnen sagen«, sagte Franke leise. »Panik. Am Schluß haben sie sich wohl gegenseitig umgebracht. Kommen Sie.«
Im hinteren Teil des Wagens herrschte hektische Betriebsamkeit. Es mußte ein gutes Dutzend Männer sein, das damit beschäftigt war, die Trümmer zu sichten und zumindest den kläglichen Versuch zu unternehmen, so etwas wie Ordnung zu schaffen. Die Spuren ihres Tuns waren auch im vorderen Teil der Wagen deutlich zu erkennen - offensichtlich hatte sich die Bergungsmannschaft von der Lok aus nach hinten vorgearbeitet, denn nicht alle Zerstörungen waren alt, wie Rogler erkannte, während er Franke folgte. Er sah zerbrochenen Kunststoff und Glassplitter, hier und da die charakteristischen Spuren eines Schweißbrenners, und einmal etwas, das ihm einen so eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ, daß er hastig wegsah: der Panzer aus verkrustetem Staub war aufgebrochen, und das, was man herausgeholt hatte, hatte eindeutig die Umrisse eines menschlichen Körpers gehabt.
Franke bedeutete ihm mit einer Geste, dicht bei ihm zu bleiben und nichts zu sagen, während sie sich dem Bergungstrupp näherten. Die Männer waren damit beschäftigt, das zusammengestauchte Metallgerippe einer Sitzbank auseinanderzuschweißen, das den Durchgang zum hinteren Drittel des Wagens blockierte. Darunter lag etwas Dunkles von bizarrer und gleichzeitig erschreckend vertrauter Form.
Es war eine Leiche. Rogler hatte den Anblick erwartet, vor allem nach Frankes geheimnisvollem Benehmen, und trotzdem schockierte er ihn. Nicht nur, weil der Anblick eines Toten auch zu jenen Dingen gehörte, an die man sich nie wirklich gewöhnen konnte - ganz im Gegenteil hatte Rogler manchmal das Gefühl, daß es schlimmer wurde, mit jeder Leiche, die er sah -, sondern weil der Mann nicht einfach nur tot war. Er war mumifiziert.
Vor ihnen lag ein braunes, verschrumpeltes Etwas, dessen rissige Haut sich wie Fetzen trockener Tapete vom Schädel abzuschälen begonnen hatte, der überdies eingedrückt und offensichtlich gewaltsam zertrümmert worden war. Der rechte Arm, der in den fadenscheinigen Resten einer Anzugjacke steckte, war gebrochen. Der linke Arm und der Rest des Körpers waren vom Gürtel an abwärts noch unter den Trümmern der Sitzbank begraben, aber Rogler zweifelte nicht daran, daß sie keinen wesentlich anderen Anblick boten.
Während Rogler noch mit seinem revoltierenden Magen kämpfte, beugte sich Franke vor und griff in die Jackentasche des Toten. Der Anzugstoff zerfiel unter seinen Fingern zu schmierigem Staub, aber als er sich aufrichtete, hielt er etwas Zerfleddertes in der Hand, das Rogler erst beim zweiten Hinsehen als Brieftasche identifizierte; genauer gesagt, etwas, das einmal eine Brieftasche gewesen war.
Franke klappte sie vorsichtig auf. Das Leder zerbröselte unter seinen Fingern, zusammen mit dem größten Teil dessen, was diese Brieftasche einmal enthalten hatte. Alles, was übrig blieb, waren drei schmale, unterschiedlich große Plastikkärtchen. Es waren eine Scheckkarte, ein in Plastik eingeschweißter Presseausweis und ein deutscher Bundespersonalausweis. Die eingeprägte Schrift war noch deutlich zu erkennen, aber das Foto war bis zur Unkenntlichkeit verblaßt und zeigte nur noch einen schwarzen Fleck. Gerade dadurch erhielt es wieder eine grausige Ähnlichkeit mit dem Gesicht seines Besitzers. Roglers Magen hörte auf zu revoltieren. Er hüpfte jetzt wie ein Gummiball in seinem Leib auf und ab und versuchte in seine Kehle zu gelangen. »Matthias Stein«, las Franke vor. »Geboren 15.7.63 in Berlin. Sehen Sie - und wir hatten vor ein paar Jahren eine Diskussion in der Öffentlichkeit, ob diese neuen Personalausweise tatsächlich fälschungssicher sind. Wenn das nicht der Beweis ist...«