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Rogler hämmerte sich vergeblich ein, daß Frankes überhaupt nicht komische Witze wahrscheinlich nur seine Art waren, mit der Hysterie fertig zu werden. Es änderte nichts: er hatte plötzlich Lust, diesem eingebildeten Idioten die Faust ins Gesicht zu schlagen. Mit dem letzten Rest seiner Selbstbeherrschung drehte er sich herum und entfernte sich ein paar Schritte. Franke war zumindest jetzt taktvoll genug, ihm nicht sofort nachzukommen, sondern ihm ein paar Sekunden zu gewähren, um seine Fassung wiederzufinden.

»Ich kannte Stein«, sagte Franke. Er wirkte jetzt sehr ernst, und als Rogler sich nach ein paar Sekunden widerwillig zu ihm herumdrehte, da erblickte er zum ersten Mal auch in seinen Augen das gleiche Entsetzen, mit dem er selbst zu kämpfen hatte, seit sie den Zug betreten hatten.

»Ich habe noch vor ein paar Tagen mit ihm zu Abend gegessen.« Frankes Gesicht umwölkte sich. »Ich kannte die meisten von denen, die hier ... die mit dem Zug gefahren sind. Einer oder zwei waren Freunde von mir.«

»Das tut mir leid«, sagte Rogler. Es war ehrlich gemeint, und Franke schien zu spüren, daß es nicht nur eine leere Floskel war, denn er lächelte dankbar.

»Um ein Haar wäre ich auch hier drinnen gewesen«, fuhr er fort. »Eigentlich ist es nur ein Zufall, daß ich mich dann doch entschlossen habe, den Zug in Ascona in Empfang zu nehmen.«

»Danken Sie dem Schicksal«, sagte Rogler ernst. »Sie wären jetzt auch tot. Und wenn es Ihnen hilft: ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um herauszufinden, was hier...«

»Das brauchen Sie nicht«, unterbrach ihn Franke. Die Spur menschlicher Regung, die für einen Moment durch seine Yuppie-Fassade hindurchgeschimmert hatte, erlosch wieder. »Und ich fürchte, das können Sie auch nicht. Kommen Sie - gehen wir ein Stück nach vorne.«

Sie entfernten sich weit genug vom hinteren Teil des Zuges, um zuverlässig außer Hörweite des Bergungspersonals zu sein. Erst dann sprach Franke weiter. »Ich bin kein Kriminalist, aber ich denke, es ist ziemlich klar, was hier passiert ist. Der arme Teufel hat wahrscheinlich noch Glück gehabt, daß ihm jemand den Schädel eingeschlagen hat. Die meisten sind wahrscheinlich elend verhungert.«

»Wie?« fragte Rogler überrascht.

»Das Bordrestaurant«, antwortete Franke. »Es war frisch bevorratet, als der Zug losfuhr. Essen und Trinken für dreihundert Gäste - zehnmal soviel, wie an Bord waren. Ich habe es mir angesehen: es ist kein Krümel mehr da. Ich weiß, es klingt verrückt, aber sie sind einfach verhungert.« Er wies auf die zertrümmerten Fenster. »Zwei oder drei scheinen auch hinausgesprungen zu sein. Wir haben bisher eine Leiche gefunden, ungefähr hundert Meter weiter hinten im Tunnel. Nach den anderen suchen wir noch. An der einen, die wir gefunden haben ... soweit das überhaupt noch feststellbar ist, war so ziemlich jeder einzelne Knochen zerbrochen. So sieht jemand aus, der bei dreihundert Stundenkilometern aus einem fahrenden Zug springt.« Er schwieg eine Sekunde. »Kein sehr schöner Tod. Aber wenigstens ein schneller.«

Rogler versuchte vergeblich, sich vorzustellen, welche unfaßbaren Szenen sich hier abgespielt haben mochten. Wenn Franke recht hatte, dann hatten sie am Schluß um jeden Krümel Brot erbittert gekämpft. Er war sehr froh, daß seine Phantasie nicht ausreichte, die Bilder heraufzubeschwören, die dieser Wagen gesehen hatte.

Aus keinem anderen Grund als dem, dem Grauen zu entrinnen, das ihn zu übermannen drohte, zwang er sich, wieder zu der Frage zurückzukehren, die Franke immer noch nicht beantwortet hatte: »Was genau wollten Sie mir zeigen, Doktor Franke?«

»Das alles hier«, antwortete Franke. »Ich hoffe, daß Sie mich jetzt besser verstehen. Es wird Ihnen helfen, Ihre Arbeit noch besser zu tun.«

»Was für eine Arbeit?« fragte Rogler. »Das hier ist eine Aufgabe für...«

»Die Zeit hat nicht gereicht, um es vorher zu erledigen«, unterbrach ihn Franke, »aber wenn Sie nachher in Ihr Hotel zurückkehren, werden Sie ein Telegramm Ihrer Dienststelle vorfinden, das Sie zum Leiter der Sonderkommission Gridone macht. Sie werden eng mit mir und einigen anderen Leuten zusammenarbeiten, die sich noch auf dem Weg nach Ascona befinden.«

»Was für eine Sonderkommission?« fragte Rogler mißtrauisch.

»Die Kommission, die versuchen wird, die Gruppierung zu ermitteln, die für diesen fürchterlichen Terroranschlag verantwortlich ist, selbstverständlich.«

»Terroranschlag?« wiederholte Rogler ungläubig. Er starrte Franke an. »Sind Sie verrückt? Das hier war kein Terrorakt!«

»Natürlich nicht«, antwortete Franke lächelnd. »Aber Sie und Ihre Männer, Herr Rogler, werden uns dabei helfen, es zu einem zu machen.«

2

Mittwoch. War heute Mittwoch? fragte sich Warstein, während er sich mit unsicheren kleinen Schritten zum Badezimmer vortastete und sich dabei in Gedanken völlig auf zwei Dinge konzentrierte - was an sich schon eins mehr war, als er sich an einem Morgen wie diesem zutraute. Nicht, daß dieser Morgen irgendwie anders als der gestrige oder der davor gewesen wäre; oder der von morgen oder dem Tag danach.

Das eine war, sich im Slalom durch das Chaos in seiner Anderthalb-Zimmer-Wohnung zu tasten, ohne irgend etwas umzustoßen, gegen ein Möbelstück zu laufen oder in die Reste seines Abendessens von gestern zu treten: ein halbes Grillhähnchen, dessen Knochen er Vlad hingeworfen hatte. Der Kater hatte das allermeiste davon verputzt, aber wie üblich natürlich gerade genug übriggelassen und an strategisch günstigen Punkten in der Wohnung verteilt, daß er eben nicht sicher sein konnte, nicht mit nackten Füßen in spitze Hühnerknochen zu treten.

Der zweite Punkt, auf den Frank Warstein seinen noch immer nicht ganz in Gang gekommenen Denkapparat fokussierte, war, sich gegen den Anblick zu wappnen, den ihm der Spiegel bieten würde. Sicher keine Überraschung, aber auch nichts, worauf er sich freute. Von allem war das vielleicht das Schlimmste. Warstein ließ keine Gelegenheit aus, jedem, der es hören wollte (viele waren es ohnehin nicht), zu erzählen, daß er im Grunde ganz zufrieden mit seinem Leben war und sich im übrigen jeder zum Teufel scheren konnte, dem die Art und Weise nicht paßte, auf die er es eingerichtet hatte.

Er wußte nicht, ob seine Freunde ihm diese Lesart abkauften oder nicht - der Spiegel jedenfalls tat es eindeutig nicht.

War heute Mittwoch? Er nahm den Gedanken wieder auf, während er nach einem flüchtigen, aber äußerst unsanften Kontakt mit dem Türrahmen zum Waschbecken weiterschlurfte und sich schwer mit beiden Händen darauf stützte, wobei er es sorgsam vermied, in den Spiegel zu sehen. Ja, er war fast sicher. Auch wenn er sich nicht mehr genau an den Abend erinnerte, bewiesen der hämmernde Schmerz in seinen Schläfen und der schlechte Geschmack doch, daß er gestern betrunken gewesen war, und dienstags war er immer betrunken, was allerdings nur eine vierzehnkommaachtundzwanzigprozentige Chance darstellte, daß heute wirklich Mittwoch war, denn er war jeden Abend betrunken. Warsteins stoppelbärtiges Gesicht verzog sich zu einem flüchtiggequälten Lächeln. Vierzehnkommaachtundzwanzig Prozent - er setzte immer noch alles in Zahlen um. Erstaunlicherweise funktionierte dieser Teil seines Alkoholikergehirnes noch so präzise wie eh und je. Manche Dinge änderten sich wahrscheinlich nie. Irgendwann, dachte er, während er sich schaudernd zwei Hände eiskaltes Wasser ins Gesicht schaufelte - nicht etwa aus Gründen der Askese oder gar, weil es gesünder war, sondern einzig weil dieser beschissene Heißwasserboiler schon vor Monaten seinen Geist aufgegeben hatte und sein nicht minder beschissener Vermieter nicht daran dachte, das Gerät zu reparieren -, irgendwann einmal würde er wahrscheinlich ganz aus Versehen ausrechnen, wie viele Dosen Warsteiner Premium er noch in sich hineinkippen konnte, bis es endlich vorbei war. Allzu viele konnten es nicht mehr sein. Sein Arzt hatte schon vor einem Jahr damit aufgehört, ihm entsprechende Vorhaltungen zu machen; und vor einem halben, ihn zu einer Entziehungskur überreden zu wollen. Warstein war es nur recht. Es spielte keine Rolle, ob er noch ein Jahr oder zehn so weitermachte, dreihundertfünfundsechzig oder dreitausendsechshundertfünfzig Nächte zwischen RTL, PRO7 und SAT1 hin- und herschaltete, bis er genug getrunken hatte, daß ihm die Augen zufielen, wo war der Unterschied?