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Warstein dachte diesen Gedanken nicht zum ersten Mal, und übrigens auch ohne Angst oder gar solch komplizierte Gefühle wie Selbstmitleid oder Bitterkeit. Über dieses Stadium war er längst hinaus - falls er jemals darin gewesen war. Er war dabei, sich zu Tode zu saufen, na und?

Statt sich weiter mit Gedanken an Dinge herumzuschlagen, die ihn im Grunde ohnehin nicht interessierten, konzentrierte er sich zum dritten Mal auf die Frage, welcher Wochentag heute war. Mittwoch war wichtig. Mittwochnachmittags hatte er sich auf dem Amt zu melden, und auch wenn Ämter gleich welcher Art auf Warsteins persönlicher Verhaßtheitsskala ganz oben standen - dieser Termin war wichtig. Schließlich ging es um Geld. Nicht einmal unbedingt um viel, aber neben einer Reihe anderer hatte Geld noch eine ziemlich verblüffende Eigenschaft: je weniger man davon hatte, desto mehr Ärger machte es einem. Warstein kippte sich eine weitere Handvoll Wasser ins Gesicht und prustete. Einige Tropfen liefen ihm eiskalt den Nacken hinab, so daß er schaudernd zusammenfuhr und hastig nach dem Wasserhahn tastete, um ihn zuzudrehen. Noch immer halb blind und mit zusammengekniffenen Augen trat er vom Waschbecken zurück und wankte aus dem feuchten Verschlag, von dem sein Vermieter glaubte, es wäre ein Badezimmer. Vlad, der sich von seinem Kissen herunterbequemt und an seine Fersen geheftet hatte, um nach seinem Frühstück zu betteln, reagierte nicht schnell genug, so daß Warstein ihm kräftig auf den Schwanz trat. Der Kater schoß mit einem schrillen Kreischen davon, Warstein machte einen erschrockenen Ausfallschritt zur Seite und trat prompt in einen spitzen Hühnerknochen. Er verbiß es sich, ebenso laut auf zujaulen wie der Kater, obwohl ihm danach war. Aber er nahm sich vor, Vlads Frühstück an diesem Tag ausfallen zu lassen. Sollte das dumme Vieh doch die Hähnchenknochen fressen, mit denen es die Wohnung gespickt hatte.

Warstein humpelte zur Couch, setzte sich ungeschickt auf die Lehne und zog seinen Fuß mit der Hand nach oben, um die Sohle zu betrachten. Sie war nicht verletzt, obwohl sie höllisch weh tat. Vlad lugte hinter einem Sessel am anderen Ende des Zimmers hervor und beäugte ihn aufmerksam. Warstein war sicher, ein höhnisches Funkeln in seinen Augen zu erkennen. Daß Katzengesichter nicht zu einer komplizierten Mimik imstande waren, war ein Märchen. Seit Vlad bei ihm war, wußte er, woher Levis die Inspiration für seine Grinsekatze genommen hatte. Vlad war nichts anderes als deren Reinkarnation; nur mit einem mieseren Charakter.

Es klingelte. Der Laut kam so unerwartet, daß Warstein erschrocken zusammenfuhr und um ein Haar von der Couch gefallen wäre. Er fluchte. Im allerersten Moment irritierte ihn das Klingeln nur. Es war nicht einmal zehn - niemand besuchte ihn um diese Zeit. Um ganz genau zu sein: im Grunde besuchte ihn überhaupt nie jemand, weder zu dieser noch zu irgendeiner anderen Zeit. Schon gar nicht mitten in der Nacht.

Die Erkenntnis setzte eine zwar vielleicht etwas abenteuerliche, für Warstein aber typische Kausalkette in Gang. Da es niemanden gab, der ihn besuchen würde, konnte es nur jemand sein, der etwas von ihm wollte, und das wiederum konnte nur eines bedeuten - Ärger. Das Ergebnis dieser ganz privaten Frank-Warstein-Logik war fast zwingend: er geriet in Panik. Irgendwie fand er zwar sein Gleichgewicht wieder, nicht aber die Kraft aufzustehen und zur Tür zu gehen.

Vielleicht hatte sich ja einfach jemand in der Adresse geirrt. Das Klingeln wiederholte sich, und einen kurzen Moment bekam es Verstärkung in Form eines lang anhaltenden Klopfens. Wer immer dort draußen war, ging entweder auf Nummer Sicher oder wußte, daß er seine Gründe hatte, nicht zu öffnen. Einen Augenblick lang überlegte Warstein tatsächlich, einfach Toter Mann zu spielen und abzuwarten, bis sich das Problem von selbst erledigte. Aber dann stand er doch auf und humpelte zur Tür. Wenn es ein Irrtum war, würde er sich schnell aufklären. Wenn es ein Besucher der unangenehmen Art war - wozu zum Beispiel Postboten mit Einschreibebriefen von gewissen Rechtsanwälten, Gerichtsvollzieher und andere unliebsame Zeitgenossen zählten (wer hatte behauptet, daß Frank Warstein niemanden kannte?) -, würde er das Problem nur hinausschieben, nicht erledigen. Und die Ungewißheit würde ihn in den nächsten Tagen verrückt machen. Besser, er stellte sich der bitteren Wahrheit jetzt gleich. Warstein grinste schief. Es schien, als hätte er heute seinen mutigen Tag.

Das Klopfen hörte auf. Dafür klingelte es zum dritten Mal, noch ehe er die Tür erreicht hatte, und diesmal klang es eindeutig ungeduldiger. Das war zwar unmöglich, aber es war so, basta. Schließlich war er Spezialist für Dinge, die eigentlich unmöglich sein sollten.

Daß der ›nächtliche‹ Besucher so hartnäckig auf Einlaß bestand, beruhigte ihn ein wenig. Gerichtsvollzieher und Briefträger benahmen sich nicht so.

»Ja, ja, schon gut!«

Seine Worte mußten gehört worden sein, denn das Klingeln hörte auf, ungefähr eine halbe Sekunde, ehe er die Klinke herunterdrückte und die Tür mit den Worten aufriß: »Kein Grund, gleich die Klingel abzureißen!«

Er mußte wohl lauter und sehr viel schärfer gesprochen haben, als er eigentlich vorgehabt hatte, denn sein - nebenbei gesagt: äußerst attraktives - Gegenüber fuhr erschrocken zusammen, und für einen Moment überlagerte Unsicherheit den Ausdruck in ihren Augen, den Warstein früher ohne den mindesten Zweifel als jene Art übertrieben aufgesetzter Arroganz identifiziert hätte, die keinem anderen Zweck diente, als Furcht zu überspielen. Jetzt erschreckte er ihn. »Ja, bitte?« fragte er, etwas leiser, aber in kein bißchen versöhnlicherem Ton. Er hatte schon vor Jahren aufgehört, solch feine Differenzierungen zu machen; kurz nachdem er festgestellt hatte, daß es sich einfach nicht lohnte.

Sein unwirscher Ton hatte nicht nur zur Folge, daß der Schrecken in den Augen der jungen Frau erneut aufflammte, sondern auch, daß sie gute fünf Sekunden lang einfach dastand und nichts anderes tat, als verloren auszusehen, wodurch sich Warstein hinlänglich Gelegenheit bot, sie etwas aufmerksamer zu mustern.

Was er sah, hätte ihm gefallen, wäre der Moment nur ein bißchen günstiger gewesen. Vor ihm stand eine dunkelhaarige, nicht ganz schlanke Frau in jenem schwer zu schätzenden Alter zwischen dreißig und vierzig. Sie war fast so groß wie er - beinahe einsachtzig also - und geschmackvoll gekleidet, wenn die weiße Bluse und das leichte Sommerkostüm auch für die Jahreszeit nicht ganz zu passen schienen. In der Rechten trug sie eine Handtasche aus schwarzem Kunstleder, unter den linken Arm hatte sie eine voluminöse Kunststoffmappe geklemmt. Ihr Gesicht hätte ihr keine Chance bei irgendeiner Mißwahl verschafft, war aber trotzdem hübsch, fast ein wenig zu mädchenhaft für ihr Alter und ihre Erscheinung.

Umgekehrt offenbarte sich der unangemeldeten Besucherin das Bild, dessen Anblick im Spiegel Warstein so sorgsam ausgewichen war - das eines siebenunddreißigjährigen, heruntergekommenen Alkoholikers, der seit drei Jahren vergeblich versuchte, sich zu Tode zu trinken. Sein Haar fiel lang bis auf die Schultern herab und hatte seit einer Woche keinen Kamm mehr gesehen, und der ungleichmäßig wachsende Drei-Tage-Bart und die dunklen Ringe unter den Augen verstärkten den (übrigens durchaus beabsichtigt) abschreckenden Eindruck noch, den Frank Warstein auf den Rest der menschlichen Spezies ausübte.

»Ja?« fragte er noch einmal.

Die junge Frau fuhr ein wenig zusammen und versuchte dann, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Warstein war nicht ganz sicher, ob es ihr gelang.

»Herr Warstein?« fragte sie. »Frank Warstein?«