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Vielleicht, weil er Angst vor ihren Antworten hatte. Er konnte sich weniger denn je denken, warum diese Frau hierhergekommen war, aber die Unsicherheit, die sie ausstrahlte, begann auch ihn nervös zu machen.

»Ich will Ihnen nichts verkaufen«, antwortete Berger. Ihre Finger zitterten ganz sacht. Sie zwang sich jetzt, ihn direkt anzusehen, aber es kostete sie sichtbar so große Überwindung, daß sie es vielleicht besser nicht getan hätte. »Ich bin...« Sie stockte abermals, suchte ein paar Sekunden vergebens nach Worten und schüttelte dann den Kopf. »Es tut mir leid. Ich ... kann mir vorstellen, wie ich Ihnen vorkommen muß. Sie müssen mich für eine komplette Idiotin halten.« Wenn sie das nur gesagt hatte, damit er ihr widersprach, so mußte sie wohl eine Enttäuschung erleben. Er hielt sie nicht für eine Idiotin, aber er war der Meinung, daß sie genug Zeit damit verschwendet hatten, zu reden, ohne etwas zu sagen.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte sie noch einmal. »Ich hatte mir alles ganz genau überlegt, bevor ich hierhergekommen bin, aber jetzt ist ... ist plötzlich alles weg. Es ist nicht leicht, zu einem wildfremden Menschen zu gehen und ihn um Hilfe zu bitten.«

»Hilfe? Wobei?« Warstein gab sich keine Mühe mehr, sein Mißtrauen zu verhehlen.

»Ascona«, antwortete Berger. »Ich bin wegen Ascona hier. Der Tunnel.« Warstein erstarrte. Er konnte spüren, wie sich jeder einzelne Muskel in seinem Körper versteifte. Das dünne Weißblech der Bierdose in seiner Hand knisterte hohl, als sich sein Griff ohne sein Zutun verstärkte, und sein Erschrecken mußte wohl auch deutlich auf seinem Gesicht abzulesen sein, wie er an Bergers Reaktion erkannte.

Er hatte recht gehabt. Sein ungutes Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Sie war der Vampir, den er hereingebeten hatte, ohne zu fragen, wer draußen stand und an der Tür klopfte.

»Ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt denken«, fuhr Berger fort. Sie sprach jetzt laut, nicht mehr stockend, sondern sprudelte die Worte geradezu hervor, als hätte sie nur die Kraft für einen einzigen Atemzug, mit dem sie alles loswerden mußte, was sie zu sagen hatte. »Aber bitte, hören Sie mir zu. Nur fünf Minuten. Mehr verlange ich nicht. Sie ... Sie sind vielleicht der einzige, der mir helfen kann.«

»Ich wüßte nicht, wobei«, antwortete Warstein lahm. Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. Sein schlimmster Alptraum begann wahr zu werden. Seine Hand drückte die Bierdose immer weiter zusammen, ohne daß er imstande gewesen wäre, etwas dagegen zu tun. Schließlich stellte er sie mit einem Knall auf den Tisch zurück. Ein paar schaumige Tropfen spritzten heraus und fielen auf Bergers Handtasche und ihre Mappe.

»Es geht um meinen Mann«, antwortete Berger, die die Warnsignale in seinem Gesicht und seiner Stimme offensichtlich nicht registriert hatte - oder es nicht wollte. »Sie kennen ihn. Er hat für Sie gearbeitet, als Sie noch bei der Tunnelbaugesellschaft waren.«

»Das haben viele«, sagte Warstein. »Hören Sie - ich will nichts mehr von damals wissen. Das ist Vergangenheit, vorbei. Und ich bin froh, daß es -«

»Frank Berger«, fuhr Berger fort. Sie lächelte flüchtig. »Er heißt genau wie Sie. Ich hatte gehofft, daß Sie sich an ihn erinnern. Er ... er hat viel von Ihnen gesprochen. Er war bei dem Trupp, der zwei Tage lang verschwunden war.«

Ob er sich erinnerte? Warstein spürte, wie ein hysterisches Lachen in seiner Kehle emporkroch. Ob er sich erinnerte? Verdammt, er hatte fast fünf Jahre gebraucht, um es zu vergessen, und ganz war es ihm bis zum heutigen Tag nicht gelungen. »Hören Sie auf«, sagte er. »Bitte.«

Natürlich hörte sie nicht auf. Wahrscheinlich konnte sie es gar nicht mehr, jetzt, wo sie einmal angefangen hatte. Irgendwo, tief unter dem Tornado von Gefühlen, der Warsteins Gedanken durcheinanderwirbelte, begriff er sogar, daß sie wahrscheinlich nicht einmal ahnte, was sie ihm gerade antat, aber das änderte nichts, und es machte es auch nicht besser.

»Ich kann mir vorstellen, wie unangenehm es Ihnen ist, wieder an alles erinnert zu werden«, fuhr Berger fort. »Aber Sie sind meine letzte Hoffnung.«

Warstein hätte beinahe schrill aufgelacht. Vorstellen? Das konnte sie ganz bestimmt nicht. Aber er unterbrach sie auch nicht, denn er spürte, daß er vollends die Beherrschung verlieren würde, wenn er jetzt auch nur ein Wort sagte.

»Ich weiß nicht, an wen ich mich noch wenden soll. Niemand will mit mir reden, und...«

»...und ich will es auch nicht«, unterbrach sie Warstein. Er starrte einen imaginären Punkt irgendwo über ihrer linken Schulter an, und er sprach langsam, aber mit jener übermäßigen Betonung, die ihr verraten hätte, daß die wenigen Worte seine gesamte Kraft beanspruchten - wäre sie in der Verfassung gewesen, auf solche Nuancen zu achten.

»Aber -«

»Ich weiß nicht, was passiert ist, weder damals noch heute, und ich will es auch gar nicht wissen. Bitte, gehen Sie!«

»Aber Sie haben mir ja noch nicht einmal zugehört!« protestierte Berger. »Sie -«

»Und das werde ich auch nicht«, fiel ihr Warstein ins Wort. »Ich will nichts mehr von diesem verdammten Berg hören!«

»Sie haben Ihnen wirklich schlimm zugesetzt, wie?« sagte Berger leise. »Mein Mann hat mir davon erzählt. Er hat alles mitverfolgt, soweit das möglich war, wissen Sie? Er hat immer an Sie geglaubt. Er hat immer gesagt, daß Sie recht haben, und nicht Franke und die anderen. Aber ich wußte nicht, daß sie Ihnen so übel mitgespielt haben.«

»Niemand hat mir übel mitgespielt«, antwortete Warstein. »Wenn überhaupt, dann war ich es selbst. Aber das ist vorbei. Vergangenheit. Und es ist gut so.« Er schloß die Augen und atmete hörbar ein. »Es tut mir leid, wenn Ihrem Mann etwas zugestoßen sein sollte, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich will nichts mehr von damals wissen. Bitte verstehen Sie das.«

»Es geht nicht um damals«, sagte Berger leise. »Es geht um heute. Was immer in diesem Berg war, es ist noch da. Und es hat meinen Mann.«

Das war lächerlich, dachte Warstein. Das war ein Satz, wie man ihn in einem Roman las. Ein Dialog aus einem Film. Niemand sprach in Wirklichkeit so. Er erinnerte sich daran, daß sie ihm gerade selbst gesagt hatte, sie hätte sich jedes Wort sorgsam zurechtgelegt. Und wenn er sie jetzt nicht unterbrach, dann würde er sich zweifellos noch sehr viel mehr anhören müssen, was er nicht hören wollte.

Aber es war seltsam. Obwohl Warstein innerlich sehr viel mehr aufgewühlt (und auch zorniger) war, als er sich anmerken ließ, wirkten ihre Worte. Statt aufzustehen und sie einfach hinauszuwerfen, wie er es noch vor einer Sekunde vorgehabt hatte, starrte er sie nur an, und Berger deutete sein Schweigen als Aufforderung weiterzusprechen.

»Er ist verschwunden«, sagte sie. »Vor einer Woche. Und die anderen auch.«

»Welche anderen?« fragte Warstein, obwohl er das sichere Gefühl hatte, die Antwort auf diese Frage gar nicht wissen zu wollen.

»Seine Kollegen«, antwortete Berger. »Alle, die damals dabei waren. Der komplette Trupp neunzehn.«

»Trupp neunzehn? Was soll damit sein?« Warstein blickte mit einer Bewegung, die seinen Unmut über die Störung noch deutlicher machte als der gereizte Ton in seiner Stimme, von dem Computermonitor auf. Er hatte ganz automatisch geantwortet, und eine halbe Sekunde lang bekam er das unangenehme Gefühl zu spüren, gar nicht richtig zu wissen, was er geantwortet hatte - geschweige denn, worauf. Dann rekonstruierte er aus seiner Antwort die dazugehörige Frage; wenigstens gut genug, um sich mit seinen nächsten Worten nicht vollends zu blamieren.

»Die Schicht hat doch gerade erst angefangen, oder?«

»Sie hat vor drei Stunden angefangen«, verbesserte ihn Franke betont. »Und seit einer halben Stunde versuchen wir vergeblich, den Trupp zu erreichen. Sie antworten nicht.« Er zog eine Grimasse. »Wahrscheinlich sind diese besch ... eidenen Funkgeräte wieder mal ausgefallen. Wäre ja nicht das erste Mal. Allmählich beginne ich zu glauben, daß dieser verdammte Berg in Wahrheit aus einem massiven Bleiklumpen besteht. Wir senden mittlerweile mit einer Leistung, mit der man uns eigentlich auf dem Mond hören müßte.«