Выбрать главу

Vogelscheuchen-Jack lag ausgestreckt auf weichem Moos am Rand einer Lichtung. In den goldenen Sonnenstrahlen, die durch die hohen Bäume fielen, schwirrten Schwärme von Insekten. Erde, Bäume, Blätter und Blüten verströmten würzige Düfte. Wie verzaubert beobachtete Jack einen Schmetterling, der wie ein Stück beseelter Launenhaftigkeit durch die Luft trudelte. Aus allen Ecken schallte Vogelgesang von kurzen Schnäpperlauten bis hin zur großartigen Koloratur. Jack reckte sich behaglich. Das Moos war fest und trocken und die Luft an diesem Spätsommertag wohlig warm.

Vogelscheuchen-Jack war zu Hause und rundum zufrieden.

Mit einem Male verstummten die Vögel. Auf einem Ellbogen abgestützt, richtete er sich auf und schaute in die Runde. Die plötzliche Stille deutete auf einen Eindringling hin. Doch obwohl sich das Schweigen in die Länge zog, konnte Jack keine Schritte hören, und alle seine Sinne meldeten ihm, dass sich außer ihm weit und breit kein Mensch im Wald befand. Jack legte die Stirn in Falten. Es war allzu still. Nicht eine einzige Fliege summte und sogar der Schmetterling hatte sich verzogen. Verunsichert stand Jack auf. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Dunkle Wolken schoben sich vor die Sonne; die goldenen Lichtstrahlen verschwanden. Es wurde so kalt, dass Jack zitterte. Der Luftdruck fiel und ließ ein Ungewitter erwarten. Jack sah sich um und suchte nach einer Erklärung für das ängstliche Gefühl, das ihn beschlichen hatte. Auf der Lichtung regte sich nichts, auch nicht zwischen den Bäumen und in den dichter werdenden Schatten. Jack horchte in sich hinein, doch seine Instinkte waren ungewöhnlich taub. Irgendetwas hatte sie außer Kraft gesetzt. Es lag da draußen auf der Lauer, beharrlich, entschlossen. Es beobachtete ihn aus scharfen Augen und wartete. Jack zog sein Messer aus dem Stiefelschaft.

Er schaute in die Höhe und sah, dass am klaren blauen Himmel vorzeitig die Nacht hereinbrach. Die Sonne verlor ihren Glanz, rötete sich und verlosch. Jack wimmerte leise. Es war unmöglich, wider die Natur, dass es so früh Nacht wurde… Über den Wald fiel ein neues Licht, schwer und faulig. Am sternlosen Himmel tauchte der volle Blaumond auf. Jack schüttelte den Kopf und versuchte zu leugnen, was er mit eigenen Augen sehen musste, doch er spürte die Wilde Magie knistern — wie die Luft in Gewittern.

Jack wollte vor Kummer vergehen. Sein Zuhause, der Wald, war plötzlich nicht mehr da; an dessen Stelle breitete sich das Finsterholz aus. Das Leben, das er kannte, schien ein für allemal verloren zu sein, und er war nunmehr nichts weiter als ein Mann namens Jack, verfemt und ohne Obdach. Er schluckte und wehrte sich gegen einen Anfall von Panik, der ihn zu übermannen drohte. Er griff nach seinem Messer und suchte Trost in dem vertrauten Gefühl, das Heft in der Hand zu halten. Der Wald war zwar tot und verschwunden, würde sich aber immerhin noch rächen lassen. Er, Vogelscheuchen-Jack, ließ sich nicht ungestraft nehmen, was ihm gehörte.

Er wandte sich vom Blaumond ab. Die Lichtung wirkte plötzlich dunkel und bedrohlich. Hier konnte er nicht bleiben, um das zu tun, was er nun vorhatte; er würde auf dem offenen Gelände im Notfall keine Deckung finden. Als er sich aber in Richtung der Bäume in Bewegung zu setzen versuchte, kam er nicht von der Stelle. Er blickte an sich herab und sah, dass das hoch aufgeschossene Gras seine Fußgelenke fest umschlungen hielt. Jack zerrte mit aller Kraft an den Fesseln, doch das Gras war nicht zu zerreißen. Erst als er mit dem scharfen Messer daran ging, gelang es ihm, die zähen, widerspenstigen Halme einzeln zu kappen. Wieder stieg Panik in ihm auf und es fiel ihm immer schwerer, sie zurückzudrängen. Endlich wieder frei, rannte er los. Das Gras ringsum wuchs immer schneller; es schoss geradezu aus dem Boden und wogte hin und her, obwohl sich kein Lüftchen rührte. Die längeren Halme langten aus, als gierten sie nach seinen Beinen. Dann sah er die Bäume vor sich aufragen und fasste neuen Mut.

Zwischen den Bäumen würde er wieder in Sicherheit sein, so hoffte er jedenfalls.

Über der Lichtung flimmerte die Luft im schaurigen Schein des Blaumonds; im Finsterholz dagegen stammte das einzige Licht von den phosphoreszierenden Flechten an den Bäumen. Jack blieb stehen und suchte mit Hilfe seines Spürsinns nach Orientierung. Aber der Wald schwieg still. Als er sich an den Stamm des nächsten Baumes lehnte, gab die Rinde unter seinem Gewicht nach. Erschrocken trat er von dem Baum weg und stellte fest, dass der Stamm morsch und von innen heraus verfault war. Überall lag Fäulnisgeruch in der Luft, schwer und erstickend. Die Äste der Bäume verdrehten und wanden sich plötzlich. Ehe Jack sich darauf einstellen konnte, hatten sich ihm hinterrücks Zweige um die Brust geschlungen. So fest drückten sie zu, dass er kaum noch Luft bekam. Jetzt half auch das Messer nicht; er fand keine Stelle, an der er es ansetzen konnte, ohne sich selbst zu verletzen. Die Zweige hoben ihn vom Boden auf, hoch in die stinkende Luft. Ohnmächtig strampelte er mit den Beinen, als er den Boden unter den Füßen verlor.

Nein. Das kann so nicht sein.

Jack gab alle Gegenwehr auf und konzentrierte sich auf diesen Gedanken. Das Finsterholz war zerstört, der Blaumond längst verschwunden. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Ausgeschlossen, dass sie wieder zurückgekehrt waren. Jack versuchte, nur an dieser einfachen Gewissheit festzuhalten und alle anderen Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Da ließen die Zweige plötzlich von ihm ab. Er fiel zu Boden, steckte sein Messer zurück in den Stiefelschaft und richtete sich auf. Er brauchte es nicht mehr. Umstrahlt von hellem Sonnenlicht, das die Dunkelheit vertrieb, kehrte er zur Lichtung zurück. Aus finsterer Ferne tönte wütendes Geschrei. Jack blieb davon unbeeindruckt und achtete nicht weiter darauf. Er war Vogelscheuchen-Jack und besaß die Kraft der Bäume. Er war Teil des Waldes, sein Hüter und Mittelsmann; eine Zerstörung des Waldes würde er nicht zulassen.

Die toten und modernden Bäume rührten sich knarrend, konnten ihm aber mit ihren peitschenden Zweigen nichts anhaben, denn er war geschützt von dem Lichtkegel, der ihn begleitete. Jack trat in die Lichtung hinaus und wartete. Der Blaumond starrte herab, doch sein Licht verfehlte ihn. Die Wilde Magie verpuffte wirkungslos. Jack blickte zum Nachthimmel auf. Es müssten Sterne zu sehen sein. Und nun kam ein Stern nach dem anderen zum Vorschein, matt und unscheinbar zunächst, doch allmählich gewannen sie an Leuchtkraft und überstrahlten den Blaumond. Plötzlich wurde ein Flattern laut; eine Eule senkte sich mit ausgestreckten Krallen aus der Dunkelheit. Jack zuckte nicht mit der Wimper, und die Eule drehte bei, verschreckt vom Flutlicht der Sonne. Das Flügelgeflatter schwoll an, als Hunderte von Vögeln jeglicher Art aus der Nacht herbeischwärmten. Alles Waldgetier, Groß und Klein, trat fauchend und zischelnd auf den Plan, doch Jack hielt zuversichtlich stand. Er war gegen alle Angriffe gefeit.

Vögel und Tiere zogen wieder ab. Der Blaumond erblasste und verschwand. Der Tag verdrängte die Nacht. Es war wieder heller Sommer. Jack stand am Rand der Lichtung und sah sich um. Alles war, wie es sein sollte. Er nickte zufrieden und legte sich wieder aufs Moos.

Ich habe nur geträumt. Gleich werde ich aufwachen.

Er schloss die Augen und überließ sich dem Schlaf.

Hammer schreckte auf und schlug mit den Armen um sich. Dann entspannte er sich, als er sah, wo er war: in einer sicheren Kammer der Grenzfeste. Es war alles nur ein Traum gewesen. Nur ein Traum. Seufzend richtete er sich im Stuhl auf. Allmählich fand sein Puls zu einer normalen Frequenz zurück. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und wischte sich mit dem Ärmel das schweißnasse Gesicht. Plötzlich hielt er inne und betrachtete seine Hände von beiden Seiten, suchte nach Spuren der Verwesung, an die er sich erinnerte. Doch davon war nichts zu erkennen. Alles in Ordnung, dachte er erleichtert. Es war nur ein Alb, eine im Traum verzerrte Erinnerung aus zurückliegender Zeit.