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            Ich drang weiter vor, suchte Heathers Energie und konzentrierte mich auf das, an was ich mich am besten erinnern konnte: den Duft nach Lavendel und Zimt, der ihrer Haut und ihrer Kleidung anhaftete. Und während meine Energie sich immer dünner dehnte und streckte und nach einem Hinweis tastete, raste plötzlich ein Wispern vorbei. Sie haben sie. Sie haben sie. Und dann war es wieder still.

            Rhiannon hatte recht. Etwas hatte meine Tante geholt. Was immer es war, es war groß, und es war böse, und es war da draußen im Wald.

            Ich schlug die Augen auf, gähnte und schüttelte den plötzlichen Energieschub ab. »Gehen wir rein.«

            Als wir das Haus betraten, traf mich die Wärme wie eine glühende Hitzewelle aus einem Herd, und ich schälte mich aus meiner Jacke. Dann trat ich an den Tisch meiner Tante und zog den Vorhang zurück, um aus dem Fenster zu sehen. Der Wald war ein weißes Winterwunderland, unbefleckt und wunderschön, und dennoch war das Dunkle spürbar, als sei es direkt unter dem funkelnden Schnee vergraben.

            »Ich weiß nur, dass man sie entführt hat. Jemand hat sie geholt, aber wer, weiß ich nicht.« Ich wollte die nächste Frage nicht stellen, aber es musste sein. »Hast du Grieve gesehen? Er weiß vielleicht mehr.«

            Allein seinen Namen auszusprechen, tat mir im Herzen weh. Er fehlte mir sehr. Als ich zum letzten Mal vor neun Jahren hier gewesen war, hatte er mich zu bleiben gebeten. Dazu war ich nicht bereit gewesen, und er hatte sich von mir abgewandt. Ich war gegangen, ohne mich zu verabschieden.

            Rhiannon legte mir einen Arm um die Schultern und schmiegte ihre Wange an meine. »Nein. Er hat sich hier nicht mehr blicken lassen, seit du damals gegangen bist.«

            Das war typisch. Und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass er es auch erst dann tun würde, wenn ich mich entschuldigt hatte. Und selbst dann hatte ich meine Chance vielleicht für immer vertan. Noch eine Angst, vor der ich davonlief, seit meine Mutter gestorben war. Aber nun winselte mein Wolf, und ich rieb mir mit der Hand über den Bauch und spürte, wie die Tätowierung sich regte. Grieve war dort draußen, und er wusste, dass ich nach Hause gekommen war.

            »Ich muss nach ihm suchen. Er könnte uns helfen.«

            »Bist du sicher? Vielleicht will er nicht gefunden werden. Du hast ihm schließlich einen Korb gegeben.«

            »Kann sein«, sagte ich. »Aber ich muss es versuchen.«

            Rhiannon gähnte. Sie sah noch erledigter aus, als ich mich fühlte. »Ich bin todmüde. Seit vorgestern Nacht habe ich nicht mehr geschlafen. Als mir klarwurde, dass Heather wirklich fort war und nicht nur irgendwo etwas besorgte …« Ihre Stimme verebbte, und sie schien den Tränen nahe. Rhiannon nannte ihre Mutter immer beim Vornamen, wie ich es auch getan hatte. Das schien in der Familie zu liegen.

            »Ich habe auch nicht besonders geschlafen. Beim Diner habe ich gestern Abend ein kleines Abenteuer erlebt, das ich nicht wiederholen muss.« Während wir in die Küche gingen und sie mir Tee machte, erzählte ich ihr, was am Motel geschehen war.

            Wir ließen uns an dem großen Eichentisch nieder, und Rhiannon stieß einen tiefen Seufzer aus. »Die Männer, die dir gefolgt sind, könnten vom Lupa-Clan sein. Lykanthropen empfinden eine starke Abneigung gegen Magiegeborene, und in letzter Zeit sind sie gereizt. Im Grunde genommen ist die ganze Stadt gereizt. Und was immer da im Schatten gelauert hat … ich weiß auch nicht. Fakt ist jedenfalls, dass sich nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr freiwillig draußen aufhält, sofern er nicht Vampir ist.«

            »Was zum Teufel geht hier vor, Rhia?«

            »Es ist überall. Sogar die Kids in der Schule spüren es. Ich sehe es ihnen an. Sie hasten von Klasse zu Klasse, als wollten sie bloß nicht zu lange draußen sein.«

            Rhiannon arbeitete am New-Forest-Konservatorium, eine von mehreren Akademien für Hochbegabte im Land. Hochbegabte bedeutete in diesem Fall ältere Schüler nicht ganz menschlicher Herkunft mit übernatürlichen Kräften. Zum größten Teil Magiegeborene. Einige Vampire, wenige Feen. Die Werwölfe blieben meistens unter sich.

            Ich blickte in meine Tasse. »Dabei ist das hier eine nette, freundliche Straße mit netten, freundlichen Nachbarn. Als ich vorhin durch die Stadt fuhr, sah alles ganz normal aus.«

            Rhiannon biss sich auf die Lippe, als müsste sie entscheiden, wie viel sie sagen wollte. »Sei vorsichtig, Cicely. Anders als ich benutzt du deine Kräfte. Was immer diese Kreatur ist, sie ernährt sich anscheinend von Magie. Leute sind verschwunden, Leute sind gestorben. Ich weiß nicht, ob Heather es dir schon am Telefon gesagt hat, aber eine Reihe von Mitgliedern der Dreizehn-Monde-Gesellschaft sind weg oder wurden tot aufgefunden.«

            Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Der schwache Duft nach Leder und Schweiß und Leidenschaft. Und etwas darunter. Magie reitet auf den Luftströmen. Schattenmagie, Spinnenmagie, Blutmagie. Der Geschmack von süßem Gift und Wein. Die Energie legte sich über mich wie ein Netz und dämpfte meine Fähigkeit, mit klarem Verstand zu urteilen. Wo immer ihr Ursprung war, sie war stark. Mächtig. Uralt.

            Benommen schlug ich die Augen wieder auf. »Hat Marta denn noch etwas zu den Ereignissen gesagt? Übrigens muss ich mit ihrem Anwalt sprechen, wenn Heather recht hatte und ich tatsächlich ihr Geschäft geerbt habe.«

            »Oh, du bist definitiv die Begünstigte. Ich gebe dir seinen Namen, dann kannst du morgen mit ihm reden.« Rhiannon zuckte mit den Achseln. »Im vergangenen halben Jahr hat Marta sich immer weiter zurückgezogen. Jetzt ist sie tot. In den letzten drei Monaten sind fünf Mitglieder der Gesellschaft spurlos verschwunden, und drei andere sind tot.«

            »Verdammter Dreck. Dann sind es ja nur noch …«

            »Vier. Nur noch vier hier in unserer Ortsgruppe. Rupert und Tyne. LeAnn und Heather. Und jetzt ist Heather auch noch weg. Und es sind nicht nur Magiegeborene verschwunden, sondern auch ganz normale Leute von hier. Marta hat vor ein paar Wochen noch erwähnt, dass sie im Augenblick gute Geschäfte mit Schutzzaubern und Talismanen machte. Die Leute haben Angst.«

            Sie flüsterte jetzt, aber das konnte Lauscher nicht aufhalten. Es gab immer Wesen, die zuhörten. Der Wind trug Geheimnisse mit sich. Ich konnte sie wahrnehmen.

            »Was immer mich attackiert hat, was immer hinter diesen Veränderungen in der Stadt steckt, es verbirgt sich in der Klamm und im Wald dahinter.« Ich zog die Brauen zusammen und dachte nach. »Wann bist du zum letzten Mal im Wald gewesen? Oder Heather, sofern du das weißt?«

            Sie dachte einen Moment lang nach. »Bei mir muss das mindestens schon zwei Jahre her sein. Was meine Mutter betrifft … ich weiß es nicht. Sie braucht oft Wildkräuter. Es kann kaum mehr als ein paar Wochen her sein. Die Energie hat sich anfangs nur sehr träge manifestiert, wie ein Unwetter, das sich über dem Meer zusammenbraut. Niemand hat geglaubt, dass sie sich festsetzen könnte. Wahrscheinlich haben wir die Sache nicht ernst genommen. Und als wir eines Tages aufwachten, lag die Stadt unter einem Schatten. Kurz danach fiel die Gesellschaft auseinander. Und die Leute verschwanden.«

            »Heather sagte, Marta sei die Kehle aufgerissen worden und sie habe kein Blut mehr gehabt. Aber sie sagte auch, dass sie nicht an Vamps als Täter glaubt. Was denkst du? Ich weiß, dass die Blutsauger nicht für alles verantwortlich sind, aber wenn es Ärger der übernatürlichen Art gibt, sind in neun von zehn Fällen Vampire schuld.«