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            Ein Windstoß stieß gegen das Fenster und schreckte mich aus meinen Gedanken. Willkommen zu Hause, Cicely. Willst du denn nicht guten Tag sagen?

            Behutsam schob ich das Fenster hoch. Das innere Strahlen, das ich immer mit dem Wald verbunden hatte, war verblasst; Schluss mit der freundlichen Einladung. Während ich in die Bäume blickte, legte sich ein Schatten über den Wald. Ich lehnte mich an den Sims und starrte hinaus ins Unterholz, über das sich in dicken Flocken eine weiße Decke gelegt hatte.

            »Bist du noch dort draußen?«, flüsterte ich. »Wartest du auf mich? Willst du mich noch? Was ist geschehen, Grieve? Das Licht ist aus den Bäumen gewichen.«

            Grieve. Seine erste Liebe vergaß man nie. Ich war sechs Jahre alt gewesen, als wir uns kennengelernt hatten, aber erst bei einem meiner Besuche hier elf Jahre später war es geschehen, dass er sich meiner angenommen, mich auf sein Lager gezogen, mich geliebt und mir das Herz gestohlen hatte. Und ich hatte ihm seins gebrochen.

            Grieve. War er noch irgendwo dort draußen? Mein Wolf sagte ja. Wartete er darauf, dass ich ihn wiederfand? Die Zeit würde es zeigen. Aber wusste er, was mit Heather geschehen war? Das konnte ich nur hoffen.

            Es gab nur eine Möglichkeit, eine Antwort auf all meine Fragen zu bekommen.

            Ich machte mich auf den Weg nach unten.

            Leo Byrne befand sich im Wohnzimmer. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mir einen Tagesboten vorgestellt hatte, wie Leo jedenfalls nicht. Er war Ende zwanzig, groß, hatte helles Haar und ein schiefes, wenn auch nettes Lächeln. Er war schlank und ein wenig schlaksig, und die Windjacke, die er trug, ließ ihn jünger wirken, als er war.

            »Was ist deine Spezialität? Werwesen? Magiegeborener?«

            Er lächelte. »Hexer. Kräuter und Heilung. Deine Tante weihte mich in ihre Künste ein. Ich kann nicht glauben, dass sie einfach abgehauen sein soll, ohne jemandem etwas davon zu sagen.«

            »Das ist sie auch nicht. Du weißt das, Rhiannon weiß das. Ich weiß das. Die Einzigen, die sich etwas vormachen, sind die Cops. Aber jetzt sag mir, was macht ein Tagesbote?«

            Er errötete. »Ich erledige für Geoffrey und seine Frau, was sie tagsüber nicht tun können. Wäsche aus der Reinigung abholen, bestimmte Einkäufe, Dinge bei der Post oder Bank – so etwas eben.«

            »Und zahlen sie gut?« Ich wusste, dass meine Neugier aufdringlich war, aber es konnte nicht schaden zu wissen, was es für Möglichkeiten gab. Marta mochte mir ihr Geschäft vermacht haben, aber ich hatte Zweifel, dass es viel abwerfen würde.

            »Ähm, nicht schlecht. Es gibt aber Vorsorgeleistungen.« Er schlang den Arm um Rhiannons Taille und zog sie an sich, und sie legte ihren Kopf an seine Schulter. Es war deutlich, dass die beiden schon eine Weile zusammen waren. Sie benahmen sich sehr ungezwungen in der Gegenwart von anderen. »Und die kommen mir in den nächsten Jahren sehr recht.«

            Rhiannon wurde rot und schlug spielerisch nach ihm. »Ich habe noch gar kein Datum festgelegt, und bis wir meine Mutter nicht gefunden haben, kann ich nicht einmal darüber nachdenken. Also hör auf, du Nervensäge.«

            Ich starrte die beiden einen Moment lang an, und erst jetzt fiel mir der schmale dünne Silberring am vierten Finger ihrer rechten Hand auf. Er besaß einen Diamanten, winzig zwar, aber dennoch vorhanden.

            »Ihr zwei werdet heiraten?«

            Sie lächelte leicht. »Wir werden uns verloben. Aber – ja, Leo ist derjenige, welcher. Wir sind nun schon seit drei Jahren zusammen. Cicely, können wir jetzt endlich nach Heather suchen? Es wird immer kälter da draußen, und wenn sie einfach nur nicht nach Hause kommen kann …«

            »Ja. Dann könnte sie erfrieren. Nehmen wir eine Decke mit, falls wir sie finden sollten.« Eine Decke bedeutete Ballast, aber besser, wir schleppten sie mit, als dass sie uns nachher fehlte.

            Ich trat hinaus auf die hintere Veranda. Ein Pfad führte hinunter aufs Grundstück, wo sich auch Kräuter- und Küchengarten befanden. Falls man sich zurückziehen wollte, herrschte hier kein Mangel an ruhigen Ecken, das stand fest.

            Ich wollte gerade nach Heather rufen, als mir klarwurde, wie dumm es war, auf eine Antwort zu hoffen. Also setzte ich mich am Rand des Geländes in Richtung Wald in Bewegung und zog eine Spur durch den frisch gefallenen Schnee. Leo und Rhiannon bedeutete ich, den anderen Weg einzuschlagen.

            Vielleicht war meine Tante gestürzt und hatte sich verletzt. Vielleicht hatte sie sich den Kopf aufgeschlagen und war bewusstlos. Vielleicht …

            Ein Blitz – im pazifischen Nordwesten gab es ab und an Wintergewitter – beleuchtete direkt über dem Wald den Himmel. Ich starrte noch in das flackernde Licht, als der Donner wie ein Vorschlaghammer durch die Luft krachte.

            Wenn Heather hier ist, dann puste mich bitte in ihre Richtung, dachte ich.

            Eine Bö erhob sich, ließ mich vor Kälte erzittern und schob mich in nordöstliche Richtung, direkt auf den Wald zu. Shit. Vier Mitglieder der Gesellschaft sind tot. Vier weitere werden vermisst.

            Ich ging auf den Wald zu, erst zögernd, doch dann packte mich die Panik, und ich begann zu rennen. Als ich mich der Baumlinie näherte, hörte ich Rufe hinter mir und blickte über die Schulter. Rhiannon und Leo liefen mir nach. Ich kam rutschend zum Stehen und wartete auf sie.

            »Glaubst du, dass sie da drin ist?«, rief Rhiannon mir zu.

            »Der Wind hat mich hierhergeführt.« Erneut sah ich über die Schulter, diesmal zu dem dunklen Pfad, der mich zu locken schien. Und in diesem Moment kam eine Gestalt herausgeschossen und auf mich zugerannt, düster und dürr auf zwei Beinen, mit ungelenken langen Armen und einem aufgeblähten Bauch.

            »Was ist das denn?«

            Das Ding ging mir direkt an die Kehle, und ich taumelte zurück und versuchte es zu packen, während es mir unnatürlich starke Arme um den Hals schlang. Ich schmetterte ihm meine Handfläche gegen die Nase, doch es verstärkte nur den Griff, und alles um mich herum wurde schummrig. Wie aus dem Nichts kam eine Eule aus den Baumwipfeln und attackierte meinen Angreifer mit scharfen Krallen. Während der Vogel sich emporschwang, um erneut zum Angriff anzusetzen, rannte Leo herbei und prügelte auf das Wesen ein, das von mir abließ, so dass Rhiannon mich wegziehen konnte.

            Ich kam hastig auf die Füße und rieb mir den Hals. Das Wesen stieß ein Kreischen aus und wich zurück, zischte uns an und schoss blitzschnell herum, um im Unterholz zu verschwinden.

            »Verdammter Dreck! Was war denn das?« Fassungslos starrte ich dem Wesen hinterher. Ein Schatten, dachte ich. Es war wie ein dürrer hässlicher Schatten gewesen. Und die Eule – woher war sie gekommen? Eulen waren Nachttiere, doch diese hier war hellwach gewesen. Die Tattoos an meinen Oberarmen regten sich. Verdutzt blickte ich auf meinen Ärmel, doch schon war die Empfindung wieder vorbei.

            Ulean, was geht hier vor?

            Ich weiß es nicht. Aber dieses Ding wollte dein Blut. Gib acht, Cicely. Dieser Wald ist nicht mehr, was er einst war.