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Frankenberg, dachte er.

Jetzt bin ich in Frankenberg.

In der Einsamkeit.

In der Fremde.

In der Verbannung.

Und dort, weit weg, hinter den Bergen und Wäldern, viele Tagesreisen durch Schluchten und Dörfer liegt Dresden, das sonnige, herrliche, mächtige, königliche Dresden.

Die Residenz des Königs.

Das Schloß. Der Traum des Zwingers.

Die weite, große Oper mit der Quadriga der Panther auf dem Dach.

Die breite Brühlsche Terrasse an der noch jugendlichen Elbe.

Könnte ich jetzt in den Gärten wandeln, am Nymphenbrunnen des Zwingers die Serenaden hören, durch die Gänge der Gemäldegalerie wandeln und im Grünen Gewölbe den Porzellan- und Goldschatz des Starken August bewundern. Nur durch die Straßen gehen, das Leben aufsaugen, das bunte, vielfältige und doch so einfältige Leben, die Straßen sehen, die meiner Kindheit Glanz und Erleben gaben.

Otto Heinrich Kummer stand auf und trat an das Fenster.

Traurig lehnte er den Kopf an den Rahmen und blickte hinaus in die ziehenden Wolken mit dem Wunsch, mit ihnen zu reisen, denn sie zogen in die Heimat und würden morgen vielleicht am glänzend blauen Himmel über dem weiten Bau des Zwingers hängen.

Auf dem Bette rührte sich die Gestalt des Riesen Bendler. Knurrend wälzte er sich herum und bemerkte den Stummen an dem Lukenfenster.

«Schon Heimweh?«sagte er halblaut.»Kenne ich. Habe ich auch gehabt, als ich vor fünf Jahren nach Frankenberg in die Fänge des alten Knackfuß kam. Geht schon vorüber, Kamerad — mußt die Zähne fest aufeinanderbeißen und den Kloß, der dir dabei im Halse steckt, einfach hinunterschlucken! Zu ändern ist doch nichts! Warum kommst du auch zu diesem Knackfuß!«

«Mein Vater hat es so bestimmt«, antwortete Otto Heinrich leise.

Bendler pfiff laut durch die Zähne.»Der Vater — das ändert vieles. Der Alte verkaufte dich also?! Kennt er den Knackfuß?«

«Ich weiß nicht. - Er hatte eine Empfehlung.«

«Empfehlung!«Der Riese lachte schrill.»Auf solch eine Empfehlung pfeife ich! Ich muß bleiben, ich habe kein Geld, um die Stellung zu sichern — aber du! Du bist was Feineres — habe ich gleich gesehen! Geh morgen erst gar nicht hinunter — fahre mit der nächsten Post wieder nach Dresden zurück! Hier vermißt dich keiner!«

«Ich muß bleiben — der Herr Vater befahl es. Befehle werden bei uns gehalten, auch wenn man daran zerbricht!«

«Herr Vater! Befehl! Bis man zerbricht! Blödsinn! Menschenschinderei! Die Französische Revolution hat die Freiheit des Individuums gelehrt! Du kannst das tun, was du willst, wenn du es verantworten kannst. Oder willst du hier zu Grunde gehen?«

«Wenn man es zu Hause will?«

«Hast du keinen Mut, zu leben?«

«Ich kenne nur Gehorsam.«

«Himmelstockschwerenot! Gehorsam hört da auf, wo Gehorchen Wahnsinn und Mord ist! Mach deinem Vater klar, daß Knackfuß ein Unhold ist — dann wird er schon einsehen, wer recht hat!«

Otto Heinrich schüttelte den Kopf.»Mein Vater ist Münzmarschall in Dresden. Er kennt im Leben nur ein Ideaclass="underline" Dienen! Dienen bis zur Selbstaufgabe! Dienen, bis der Tod das letzte Siegel setzt. Und er verlangt es auch von mir. Kennst du den >Prinzen vom Homburg< des Dichters Kleist? Auch dieser Prinz wurde verurteilt, weil er einem Befehl nicht gehorchte und frühzeitig eine Schlacht begann. Er gewann die Schlacht, aber sein Urteil lautete auf Tod, weil er eigenmächtig handelte. - Wie dieser Kurfürst, so ist mein Vater! Hart, gerecht, eisern, aufgewachsen in der absoluten Pflicht — seine Liebe ist Gehorsam!«

Der Riese Bendler sann einen Augenblick. Dann schüttelte er den Kopf, erhob sich, setzte sich auf den Bettrand und stützte den langen Kopf in die Hände.

«Das klingt schön«, sagte er,»aber ich komme nicht mit! Ich bin die neue Zeit, die Revolution, die Umwertung aller Werte — ich habe von Robespierre und Danton gelernt, von Napoleon und Stein — und der Rousseau, lieber Kollege, dieser Rousseau ist ein toller Bursche, ein Genie der Freiheit wie der brodelnde Beaumarchais! Mögt ihr in Dresden nach dem Marsch des alten Dessauer die Hacken wirbeln und Schritte üben — euer Preußentum ist morsch! Was einmal die Welt beherrschen wird, ist die große Freiheit aller gegen alle — der unteilbare Raum der Welt für eine große Bruderschaft!«

Otto Heinrich Kummer blickte hinaus in die Nacht.

Die Rede des Kollegen wühlte ihn auf.

Seine Hände klammerten sich an dem Fensterrahmen fest, während er den Kopf an die kühle Mauer lehnte.

«Ich habe auch einmal so gesprochen, damals, vor einem Jahr in Dresden. Mein Vater verstand mich nicht — er strafte mich durch Arrest! Dann zitierte ich Schiller. Freiheit, rief ich, Freiheit. Den Don Carlos trug ich vor — Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire! — und die >Räuber< nahm ich mit in die Kammer und las sie im Kerzenschein unter der Decke. - Was nutzte es? Ich kam nach Frankenberg…«

«Weil du Schiller lasest?«stammelte der Riese.

«Nein.«, antwortete leise der Sinnende.»Weil ich selbst ein Dich-ter bin.«

Daraufhin war es eine lange Zeit still im Raum.

Um den Dachfirst sang der Nachtwind.

Irgendwo in der Ferne bellte verschlafen ein Hund.

Lauter als Wind und Bellen aber war der Atem der beiden Männer, deren Herzen sich in dieser Nacht fanden.

«Ich habe so einfach du gesagt«, murmelte Bendler nach einer Weile.»Laß uns dabei bleiben — ich glaube, wir sind beide irgendwie am Leben gescheitert. Wir müssen jetzt hart sein, um uns durchzubeißen — wir haben viele Feinde — die ganze zivilisierte Welt, das ganze Bürgertum mit seinen satten Moralitäten, die Aristokratie und den Staat. Wir stehen einsam, junger Freund, aber es ist unendlich schön, zu wissen, daß unsere Zeit noch kommt und wir die Tränen jener Sturmflut sind, die einst das Morsche wegschwemmt!«

Er stand auf und trat zu Otto Heinrich Kummer, legte ihm den Arm um die schmale Schulter und starrte mit ihm hinaus in die Nacht und die ziehenden Wolken.

«So habe ich manche Nacht gestanden«, sagte er leise.»Und manchmal dachte ich: jetzt machst du Schluß! Aber dann war es manchmal nur ein Kinderlachen, das mich zurückrief in die Wirklichkeit, manchmal nur ein Vogel, der hier vor mir auf der Dachrinne sang, oder auch nur das Rauschen der Bäume, wenn sie im warmen Sommerwind von der Ewigkeit erzählen. «Er lächelte schwach und wendete sich ab.»Jetzt hast du mich elegisch gemacht. Ich bin nämlich ganz anders, rauh, ungeschliffen, ein Tölpel, wie der alte Knackfuß wohl zigmal am Tage brüllt. Ich muß es sein, Kollege — denn mit Weichheit kommt man zu nichts! Man muß hart sein, um bestehen zu können! Laß uns schlafen! Wir haben noch soviel Zeit, die Zukunft und die Sehnsucht anzuhimmeln. Gute Nacht, Kamerad!«

Er drückte Otto Heinrich Kummer die Hand und ging zum Bett zurück. Dort warf er sich mit einem Schwung auf die Decken, verschränkte die Arme unter dem Kopf, schloß aber nicht die Augen, sondern starrte an die weißgestrichene Decke.

Er wartete, bis der neue Freund sich entkleidet und niedergelegt hatte, drehte sich dann auf den Bauch und blickte zu dem anderen Bett hinüber.

«Noch eins, bevor du einschläfst. Der alte Knackfuß hat eine Tochter! So etwas von Tochter hast du noch nicht gesehen. Ein Mädel, bei dessen Anblick dir der Atem stehenbleibt. Eine Schönheit, wie du sie in der Dresdener Oper nicht sehen kannst. Das glatte Gegenteil von dem Alten. Wo er häßlich ist, blüht sie, wo er brüllt, streichelt sie. Sie ist die Sonne der Sonnen-Apotheke. Die Mutter ist schon lange gestorben — nun führt sie hier den Haushalt. Diese Tochter ist der Rubikon. Knackfuß wechselt jedes Vierteljahr die Gesellen, weil sie diesem Mädel schöne Augen machen. Er bekommt regelmäßig einen Tobsuchtsanfall, wenn er sieht, daß ein >Flegel< — so nennt er alle — seine Tochter anhimmelt! Nimm dich also in acht. Schau sie nicht so oft an. Am besten ist, du übersiehst sie. Sonst hast du hier die Hölle en person! — Das wollte ich noch sagen. Und nun schlaf selig!«Er drehte sich geräuschvoll herum, zog die Decke bis zum Hals empor und schloß die Augen.»Trudel heißt sie…«, murmelte er noch, dann ging sein Atem wieder gleichmäßig und schwer wie der eines Schlafenden. Lange noch lag Otto Heinrich Kummer wach in seinem Bett und starrte an die Decke.