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«Ja, morden! Denn was ist euer Tun anderes als Mord? Niemand hat das Recht, des anderen Leben zu nehmen, weil er das Leben von einer anderen Warte sieht! Niemand, außer Gott, ist absoluter Herr über Sein oder Nichtsein — auch wenn es um mein Volk geht! Ihr aber maßt euch an, Richter zu sein über die Ungerechten in euren Augen! Eure Freiheit ist Blut der Unterdrückung. Nein, Bend-ler — das kann ich nicht, ich suche die Seele in den Menschen, die große, aufbauende Seele, nicht die Stelle, wo ein Stich oder Schuß tödlich ist!«

Eine lange Zeit war Schweigen in dem dunklen Raum. Dann sagte der Riese langsam:

«Ist das deine wirkliche Meinung, Heinrich?«

«Ja, Bendler!«

«Mein Gott!«Bendler sprang auf und packte Kummer an den Mantelaufschlägen,»du Träumer, siehst du denn nicht, was um dich her vorgeht? Die Fürsten verhuren das Geld des Volkes, sie bauen Schlösser und Residenzen, während den Armen die Hütten über den Köpfen verfaulen! Auf der Straße ziehen die Schlangen der Heimatlo-sen, die kräftigsten Männer fängt man vom Felde, zerrt sie aus dem Stall, reißt sie aus der Stube, wirft sie aus dem Bett und preßt sie in Uniformen, verleiht sie untereinander als Söldner, verkauft sie an fremde Staaten… jahrzehntelang. Sklavenhandel mit Weißen, Deutschen, mit unseren Brüdern! Mensch, Kummer, predige diesen Seelenhändlern Moral mit deinen Gedichten — sie stecken dich in eine Uniform, und einen Monat später bewunderst du in Marokko die Palmen! Die Seele im Menschen, der Geist der Erneuerung — daß ich nicht lache! Hier, die Faust ist eine Macht! Setze sie einem unter die Nase, ramme sie in einen feisten Spießermagen, und du wirst der ordnende Herr sein, der Herakles im Augias-Stall! Die Welt gehorcht nur dem Stärkeren, nicht dem, der sie süß besingt! Einen Dante belächelte man und machte ihn unsterblich — aber ein Ma-chiavelli brauchte nur zu winken, und die Nacken krachten zu Boden und schrien Vivat und dreimal Hurra! Das Leben respektiert nur die Muskeln, nicht den Geist!«

Otto Heinrich schüttelte den Kopf und befreite seinen Mantel sacht aus den Händen Bendlers.

«Man kann die Welt auch anders sehen. Ein Aristoteles hat mehr geleistet als ein Alexander! Die Faust regiert den Augenblick, aber der Geist baut die Entwicklung!«

«Es wird dir keiner dafür danken.«

«Auch Sokrates trank seinen Schierlingsbecher — aber sein Geist des menschlichen Ideals wird ewig sein!«

«Phantast!«Willi Bendler stapfte durch die enge Laube und lehnte sich dann an die feuchte Holzwand.»Du willst den realen Weg nicht sehen! Du steckst, auch wenn du's leugnest, zu fest im behäbigen Bürgertum!«

«Nein, Bendler. «Kummer wandte sich zu ihm um.»Aber ich halte Distanz von allem, was gegen Gesetz und Sitte ist! Ich achte den Menschen, auch wenn ich ihn als Kreatur hasse. Das ist nicht Widerspruch, sondern eine eurem Geiste unmögliche Konsequenz. Der verstoßene Liebhaber wird die Immergeliebte hassen — und trotzdem weiterlieben —, ich, der Verachtete, achte die Menschen, die mich verstoßen. Denn — und das ist die letzte Wand, die uns trennt — ich glaube an die Unsterblichkeit der Seele, an den weiten Raum des ordnenden Geistes!«

Langes Schweigen folgte nach diesen Worten. Bendler hatte den Kopf auf die Brust gesenkt, lehnte an die kalte Holzwand und sann. Otto Heinrich schlug den Mantel enger um den frierenden Körper und starrte durch das kleine Fenster in die Sterne.

«Laß uns nicht mehr davon sprechen«, sagte Bendler endlich langsam.»In wenigen Tagen bin ich in Böhmen. Wir gehen dann unsere Wege. Vielleicht treffen wir uns irgendwo einmal, dann soll die kurze Stunde der Erinnerung gehören und mit der Nacht verblassen. Ein jeder Mensch muß ja sein eigenes Leben leben, am Ende, bester Freund, stirbt jeder doch für sich allein! — Nur einen Wunsch noch habe ich: Verberge mich diese Nacht und den Tag über bei dir. Wenn es wieder dunkelt, werde ich in den Wäldern untertauchen — für immer!«

Otto Heinrich nickte. Er streckte dem Freund die Hand hin und fühlte einen dankbaren Druck.

«Komm, Bendler«, sagte er.»Du sollst das Wiedersehen nicht bereuen!«

Als Bendler in die kleine Kammer trat, blieb er einen Augenblick stehen und sah sich um.

«Nichts hat sich verändert«, sagte er leise.»Der Tisch, die Lampe, der Ofen, die alte Waschschüssel und die steinharten Betten. «Er ging zu seiner früheren Bettstelle.»Heinrich, Heinrich, mir graut vor dir!«rief er lachend.»In dieser Umgebung kannst du atmen?! Ich würde hier ersticken, wenn ich es länger als einen Tag aushalten sollte!«

Otto Heinrich kniete vor dem Ofen und versuchte die glimmende Glut anzublasen. Er legte einige Scheite trockenes Holz darauf und blies so lange, bis sich eine kleine Flamme emporringelte. Dann schloß er schnell die Ofentür vor dem beißenden Qualm.

«Du willst dich sicherlich waschen und rasieren«, sagte er zu Bend-ler, den er erst jetzt im Schein der Lampe richtig betrachten konnte.»Du siehst aus wie ein Vagabund.«

«Bin ich auch.«

«.und Ruhe brauchst du auch! Wasser, mein Rasiermesser, Seife und alles, was du brauchst, kannst du nehmen!«

Bendler nickte und begann sich zu entkleiden.

Nachdem er sich gewaschen und rasiert hatte, griff er nach einem Flacon und träufelte sich ein Parfüm auf die Handfläche, mit dem er sein geschabtes Kinn einrieb.

«Pariser Düfte.«, er lachte.»Der Segen der Kultur. habe ich lange und gern entbehrt!«

«Aber du nimmst es doch!«

Bendler zuckte die Achseln.

«Der Mensch ist von Natur aus schwach für alle Reize.«

Er lachte wieder schallend, riß die Decken seines Bettes zurück und warf sich mit dem ganzen Körper hinein, wie es bei ihm Gewohnheit war. Laut krachte das Gestell in allen Fugen.

«Gute Nacht«, sagte er noch und drehte sich auf die Seite.»Und vergiß nicht, mich morgen einzuschließen. Es wäre für Knackfuß ein Herzschlag, wenn er mich hier fände!«Er gähnte laut.»Diese Müdigkeit — zwei Tage und Nächte auf den Sohlen, das geht in die Knochen, und endlich ein Bett. Heinrich, du bist eine treue Seele.«

Er schwieg und atmete tief. Nach wenigen Minuten war er eingeschlafen.

Otto Heinrich löschte die Lampe und lag noch lange wach.

Er unterdrückte in seiner Brust das Gefühl, mitschuldig an der Flucht eines Mörders zu werden.

Doch dieser Mörder rettete durch seinen Mord den Vater.

Aber Mord bleibt Mord! Auch der Mord als edle Tat!

Otto Heinrich fror und zog die Decke bis zum Hals.

Warum denken… wie seltsam ist das Spiel des Schicksals. Ein Freund ist in Gefahr, darf man da zögern.?

Im Dunkel der folgenden Nacht tauchte Willi Bendler unter.

Noch einmal umarmten sich die Freunde, dann hastete der Riese in langen Sätzen dem Walde zu. Über Lauterstein und Marienberg wollte er an die Grenze und von dort nach Brüx an der Bie-la. Sein Freikorps, das sich bei Klostergrab sammelte, würde dann bei Burg Purschenstein wieder über die sächsische Grenze treten und versuchen, die Freiberger Mulde hinauf nach Meißen zu ziehen. Von dort aus sollten die Dinge ihren weiteren Lauf nehmen.

Voller Gedanken ging Otto Heinrich in das Haus zurück und stieß auf dem unteren Flur gegen den Apotheker Knackfuß.

Er trug über dem Nachthemd einen verschnürten Schlafrock und hielt eine lange Unschlittkerze in einem silbernen Leuchter in der Hand.

Bebend vor Erregung trat er auf Kummer zu und hielt ihm eine Kerze ins Gesicht. Geblendet von dem plötzlichen Lichtschein prallte der Jüngling zurück.

«Wo waren Sie?«brüllte Knackfuß. Seine Stimme überschlug sich und wurde grell.»Welches Frauenzimmer lassen Sie da nachts heraus?!«

«Herr Prinzipal!«Kummer reckte sich und verstärkte seine Stimme.»Ich muß schon bitten.«

«Halten Sie den Mund! Mein Haus ist kein Bordell, merken Sie sich das! Nicht genug, daß Sie die Geheimpolizei ins Haus locken und als Feigling die Aussage verweigern, kompromittieren Sie meinen ehrsamen Namen durch Ihre nächtlichen Dirnen. Sie sind ein ehrloser Lümmel!«