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Er schlug mit der flachen Hand gegen sein Spiegelbild und schrie:»Du Mörder!«Dann eilte er mit schnellen Schritten weiter über den Markt und tauchte im Schatten der Häuser unter.

Ziellos durchstreifte er Frankenberg, eilte durch Gassen, die er noch nie gesehen hatte, umkreiste den Weiher, auf dem die Jugend am Tage Schlittschuh lief, schlich sich zur Posthalterei und legte das Ohr an die Stalltür, lauschte auf das Scharren der Pferde und das Klirren der Ketten, lief dann zurück in die Stadt und wanderte von Laden zu Laden, in jedem Fenster sein Gesicht ansehend und» Mörder!«rufend.

Als er die Stadt durchwandert hatte, kletterte er den steilen Berghang hinauf, ächzte durch die froststarren Tannen und sank auf die Kuppe eines Hügels auf einem Baumstumpf nieder, müde, matt und nach Luft ringend.

Der Eiswind spielte in seinen Haaren, griff durch die Kleidung an seinen Körper und schüttelte ihn.

Mörder. Mörder. Mörder.

«Sterben!«schrie er da grell, sprang auf und klammerte sich an den Stamm einer Tanne.»Sterben! Ja, ich will sterben!!«

Zitternd hetzte er den Berg herab, stolperte über Wurzeln und Stümpfe, wankte im Tale durch die Straßen, riß die Tür der Apotheke auf und sank über dem Ladentisch zusammen.

Mörder. Mörder. Mörder.

«Ich halte das nicht aus!«schrie Kummer und schlug um sich, als könne er die Gesichter zertrümmern.»Ich werde irrsinnig… irrsinnig!«

Auf einmal war alles vorbei.

Verwundert ließ er die Hände sinken und blickte sich um. Sein Blick war klar, merkwürdig ruhig schlug sein Herz.

Auch seine Gedanken schwiegen. Er konnte nicht mehr denken, er sah nur einen sinnlosen Befehl vor sich, den ihm sein Herz gab und der sein ganzes Inneres berauschte.

Wie ein Greis schlurfte er in das Laboratorium, entzündete mit Feuerstein und Zunderschwamm ein Feuer, steckte eine große Unschlittkerze an und ging zu dem Tisch, auf dem einsam die Flasche mit Curare stand.

Lange betrachtete er sie, schüttelte die Flüssigkeit und setzte dann die Flasche wieder auf den Tisch. Aus der Lade des Giftschrankes nahm er das Rezept der jungen Frau, holte die Feinwaage wieder aus der Glasglocke, stellte Schalen und Becher zurecht und begann, die gleiche Medizin zu mischen.

Peinlich genau wog er die zehnfache Menge der Gewichte ab, schüttelte und ließ die Mischung abstehen und griff dann nach der Flasche Curare.

Schwach blinkte im Kerzenlicht der grinsende Totenschädel.

Seine Augen schienen zu blinzeln.

«Alter Freund«, flüsterte Otto Heinrich,»nun ist es soweit.«

Mit ruhiger Hand hob er den Glasstöpsel, schüttete eine große Dosis des starken Giftes in den Mischbecher und schüttelte dann die Flüssigkeit gut durcheinander.

Er ließ den Trank abstehen, nahm ein Trinkglas aus dem In-strumentenschrank, füllte es bis zum Rand mit dem Gift und schleuderte dann die noch halbvolle Flasche Curare in die Ecke zu der Lache der anderen Gifte, wo sie mit dumpfem Knall zerschellte.

Im Osten, über der Kuppe der Berge, schimmerte schwach in dem Schwarz der Nacht ein hellgrauer, langgezogener Streifen.

«Der Morgen«, murmelte Otto Heinrich und trat an das Fenster.»Die Sonne! Sei mir gegrüßt, du Tag der Erlösung.«

Langsam ging er zum Tisch zurück, besann sich kurz und trat an die Stirnwand des Zimmers.

Ein auswechselbarer Kalender hing dort in einem hölzernen Rahmen.

Mit einem Lächeln steckte Kummer die Blätter um für den neu-en Tag.

Für den 13. Februar 1835.

Dann setzte er sich an den erkalteten Ofen und nahm das Glas in beide Hände.

Kurz dachte er an Dresden, an den Vater und die Mutter, an die kleine Anna Luise, an Maltitz, Bendler und Seditz.

Ein Zittern durchrieselte ihn, eine gellende Angst vor dem Gift.

«Mutter.«, stammelte er.»Mutter. Vater. Verzeiht mir. ich kann nicht anders. Seid gütig und verzeiht. «Einen Augenblick dachte er auch an Trudel, doch dann verschwamm das liebliche Bild, und sein Blick fiel auf das Glas in seiner Hand.

Es blinkte und glitzerte.

Zuckend huschte der unruhige Kerzenschein über die blanke Fläche.

Der dunkle, leise sich bewegende Trank lockte.

Mit bleichen Händen führte er das Glas an die Lippen und stürzte das Gift hinunter.

Als es durch seine Kehle rann, sprang er auf und griff wie ein Blinder um sich. Eine irre Angst schrie in ihm, ein plötzliches Bewußtsein, was er getan hatte.

«Nein!«schrie er.»Ich will nicht!«Er sah auf das Glas in seiner Hand, schrie auf und ließ es zu Boden fallen.»Was habe ich getan! Ich will nicht sterben.! Vater. Mutter. Mutter. ich will nicht! Mutter! Rette mich doch, hilf mir! Ich sterbe ja. ich sterbe. «Er stürzte zu einem Schrank in der Ecke, riß ein Gegengift aus den Fächern und taumelte zu den Gläsern zurück.

Eine plötzliche Lähmung hinderte ihn, die Arme zu heben.

Mit grauenvoll aufgerissenen Augen starrte er um sich. Er wollte zu dem Stuhl gehen, aber auch die Beine waren gelähmt, er wollte schreien und merkte, wie seine Zunge schwer wurde und die Kehle sich zusammenschnürte.

«Der Tod.«, röchelte er.»Der Tod. «Er fühlte, wie sein ganzer Körper einzeln starb, Glied um Glied, und wie der Tod an ihm emporstieg, grauenhaft langsam und unaufhaltsam. Die Kerze begann vor seinen Augen zu verblassen, die zuckende Flamme wurde fahl, versank in einem Nebel und erlosch.»Blind«, röchelte er.»Komm, komm doch… Tod. «Er fühlte ganz entfernt, daß er zu Boden fiel, und wollte rufen, doch er hörte nichts mehr. Es war dunkel und stumm um ihn. Nur denken konnte er noch. Klar und schrecklich denken. Und er dachte. Mutter. dachte immer nur Mutter. Mutter. liebe Mutter.

Und Mutter dachte er, als auch das Denken erlosch.

Über die Berge schob sich der Tag herauf.

Und es begann zu regnen.

An einem offenen Grabe, ausgelegt mit holländischen Tulpen, Christrosen und Veilchen aus den königlichen Treibhäusern, stand ein schlanker Mann in schwarzer Robe.

Das weite Rund der Trauernden schwieg. Der Pfarrer war zurückgetreten. Am Rande der Gruft stützte der Münzmarschall Kummer seine leise weinende Frau, das gebrochene Dorchen.

Und der Mann am offenen Grab streute Blumen auf den Sarg und warf eine kleine Rolle beschriebenen Pergamentes den Blüten nach.

Dann blickte er stumm in die Gruft, lange, als sänne er ein ganzes Leben zurück und sagte langsam mit einem Zittern in der tiefen Stimme:

«Wie kurz ihm auch den Lenz der Jugend die Parze des Geschickes spann, er lebte als ein Held der Tugend und starb entschlossen als ein Mann.«

Noch einmal blickte er auf den Sarg, grüßte hinab und trat dann gesenkten Hauptes zurück.

Da trat der Münzmarschall zu ihm, ergriff seine schlaffe Hand und drückte sie fest und innig.

Groß blickten sich die beiden Männer an. Stumm, aufgerissen, unendlich traurig.

«Ich danke Ihnen«, sagte der Münzmarschall endlich mit zitternder Stimme.»Seien Sie auch mein Freund, Freiherr von Maltitz.«

Als die Trauernden gegangen waren, schaufelten vier Männer das blumenüberfüllte Grab zu.

Freiherr von Maltitz.

Der Herr von Seditz.

Ritter von Bruneck.

Und Willi Bendler.

Und über den stillen Friedhof sang der erste warme Wind, spielte mit den Blüten und taute die Erde auf für den kommenden, sprießenden Samen.

Da warf der Riese Willi Bendler seine Schaufel hin, bedeckte die Augen mit beiden Händen und schluchzte wie ein Kind.

«Ich kann nicht mehr«, stammelte er.»Er starb für nichts, für gar nichts! Das Kind hatte das Gift nicht genommen, weil dem Arzt der Geruch auffiel und er ihm die Tropfen nicht gab! Für nichts, für gar nichts — das!«