»Sie haben also nichts anderes getan als wir Satai«, sagte Skar nachdenklich.
»Wir zerstören nicht das, was uns zu schützen aufgetragen wurde«, sagte Marna eisig.
»Das haben, wenn ich dich recht verstanden habe, die Quorrl bislang auch noch nicht gemacht«, wandte Skar ein. »Worüber also regst du dich auf, Marna? Dass die Quorrl etwas tun könnten, was die Satai bislang fast immer vermieden haben, nämlich nach der Krone oder dem Herrschaftszeichen von Städten und Ländereien zu greifen - aus Klugheit und Eigennutz, wohlgemerkt, und nicht aus reiner Menschlichkeit? Und was glaubst du, was sie sind: Dummköpfe? Könnte es nicht sogar sein, dass sie eine ganz ähnliche Strategie verfolgen wie die Satai, dass sie die Kuh hegen und pflegen werden, die sie melken wollen?«
»Es könnte vieles sein«, erwiderte Marna mürrisch. »Aber fest steht, dass ich ihnen das Rückgrat brechen werde, damit sie uns nicht in die Quere kommen.«
»Na, dann viel Spaß dabei«, knurrte Skar, während er das dachte, was Kama ihnen gesagt hatte: dass die Quorrl die wertvollsten Verbündeten der Menschen seien, während die eigentliche Gefahr von den Diggern ausginge. »Ich fürchte allerdings, es wird sich als Bumerang erweisen, wenn du die Quorrl dezimierst und den Rest in die Sklaverei führst.«
»Sklaverei?« Der Satai mit der Wolfsmaske schüttelte den Kopf. »Von was für einer Sklaverei sprichst du? Die Quorrl waren schon immer eine Horde mordender und brandschatzender Banditen und es wird Zeit, ihnen endgültig das Handwerk zu legen.« Er richtete sich ein Stück weiter in seinem Sattel auf und stieß fast triumphierend hervor: »Es wird ein Reservat geben, in dem wir eine begrenzte Anzahl dieser Monster überleben lassen. Schon allein als Abschreckung: damit die Menschheit weiß, wie sehr sie uns Satai braucht - die Quorrl könnten schließlich wieder ausbrechen und Enwor erneut verwüsten, wenn wir nicht auf sie aufpassen.«
Skar starrte ihn fassungslos an. »Weiß dein verbündeter Quorrl-Führer, dass ihm das Schicksal eines Reservatsleiters bevorsteht?«
»Das weiß er nicht, weil es ihn ja auch nicht trifft«, knurrte Marna. »Es gibt immer eine Ausnahme. Hauptsache, die Quorrl-Gefahr als solche ist gebannt.«
»Und die Digger sind die Krone der Schöpfung, dazu auserwählt, Marnas Richtspruch zu vollstrecken«, spottete Skar. »Mach dich doch nicht lächerlich, Skarissa. Die Digger sind eine viel größere Gefahr für Enwor, als es die Quorrl je werden könnten.«
Marna drehte seinen Kopf genau in seine Richtung, und als er weitersprach, klang seine Stimme so eiskalt, dass sie jede Menschlichkeit verloren hatte. »Du bist verwirrt, Skar. Etwas ist in deinen Geist eingedrungen und lässt dich Dinge sagen und vor allem tun, die uns alle ins Verderben stürzen könnten, wenn ich dich nur ließe.«
»Was soll ein einziger Mensch schon gegen dich und deine Quorrl-Freunde ausrichten?«, fragte Skar verächtlich. »Ich habe keine Armee und keinen Rückhalt auf dieser Welt.«
»Oh doch, den hast du«, sagte Marna. »Du hast einen gewaltigen Rückhalt, weil wir Satai dich wider besseren Wissens in den Himmel gelobt haben. Wir brauchten eine Identifikationsfigur, um unsere Ideen weiterzutragen. Ich fürchte, wir haben schlecht gewählt, als wir dich dazu auserkoren haben. Aber es konnte ja niemand ahnen, dass dieses Gerede von deiner Wiederkunft tatsächlich wahr werden könnte.«
»Wo wir schon gerade dabei sind: Wieso bist du dir so sicher, dass ich wirklich Skar bin - und nicht irgendein dahergelaufener Betrüger. Schließlich entspricht es nicht gerade der menschlichen Erfahrung, dass ein Toter nach ein paar Jahrhunderten wieder aufersteht.«
Marna stieß ein hartes, metallisches Lachen aus. »Das ist hart, Skar«, sagte er dann. »Aber wenn du es nicht selber weißt: Von mir wirst du dazu nicht mehr erfahren.«
Er stieß einen schnalzenden Laut aus und sprengte ohne ein weiteres Wort davon.
3.8
Für einen Moment hatte Skar Schwierigkeiten die Veränderung der Landschaft in ihrer ganzen Tiefe zu begreifen, zu verstehen, dass der graue, düstere und wenig einladende Wald nicht nur kurzfristig von ein paar bunten Blumen und ebenmäßig gewachsenem Buschwerk aufgelockert wurde, sondern dass sich etwas Wesentliches verändert hatte und dass optimistische Farbenpracht und prachtvolle Gewächse hier so selbstverständlich waren wie noch kurz zuvor das eintönige Braun und Grün einer tristen Monokultur. Sie waren dem jetzt breiten und gut ausgebauten Weg auf den Kamm eines dünn bewaldeten Hügels gefolgt, hinein in einen vollkommen veränderten und immer lieblicher anmutenden Landstrich, in dem Laub- und Nadelbäume harmonisch nebeneinander wuchsen wie zwei befreundete Völker und in dem eine erstaunliche Vielzahl von Blumen, Farnen und Pilzen ebenso zum Bild gehörte wie sirrende Insekten, die hauptsächlich damit beschäftigt zu sein schienen, die verschiedenen Pflanzen zu bestäuben.
Skars rechte Hand hatte es mittlerweile geschafft, sich immer weiter nach hinten zu schieben, an die Stelle, an der in seinem Gürtel das Messer steckte, das Esanna nicht wieder hatte zurücknehmen wollen angesichts des Quorrls, den er mit einem entschlossenen Schnitt in seine Halsschlagader von seinem Leiden befreit hatte. Jetzt war er froh darüber, dass Esanna in diesem Moment so emotional reagiert hatte. Der Quorrl, der ihn grob und voll unverhohlener Wut entwaffnet hatte, hatte ihn nicht gründlich abgetastet, sondern es dabei belassen, ihm nach der Entwaffnung einen kräftigen Hieb gegen die Brust zu verpassen, der ihm die Luft aus den Lungen geschlagen hatte.
Das war Glück gewesen. Ein noch größeres Glück war, dass es ihm jetzt tatsächlich gelang, Esannas Messer aus der versteckten Position zu ziehen und unbemerkt nach vorne zu bringen. Er wusste, dass er sich beeilen musste; der Regen hatte bereits nachgelassen und die Sicht wurde zunehmend besser - wodurch auch die Gefahr bestand, dass einer der ihn umgebenden Reiter auf seinen Befreiungsversuch aufmerksam wurde. Er drehte das Messer, sodass die Klinge auf seine Handfesseln zielte, und schrappte so lange über die Lederfesseln, bis das Material genug eingekerbt war, um es später mit einem Ruck durchtrennen zu können. Erst danach ließ er sein Messer unterhalb des Sattelknaufs verschwinden; ein aufmerksamer Beobachter würde es dort vielleicht entdecken, aber er ging davon aus, dass niemand eine Waffe bei ihm vermutete.
Offensichtlich kamen sie ihrem Ziel immer näher: Der Weg war einem regelrechten, durch Schottersteine halbwegs befestigten Fahrweg gewichen, der sich im Gegensatz zu dem bisherigen verschlammten Weg auch bei schlechtem Wetter von Gespannen nutzen lassen würde. Am Wegesrand folgten mehrere Lichtungen aufeinander mit relativ frisch gehauenen Baumstümpfen oder jungen Sprösslingen, die davon zeugten, dass hier geplant Forstwirtschaft betrieben wurde. Bevor sich Skar eine Hypothese zurechtlegen konnte, auf welche Stadt oder welches Fürstentum sie wohl zuhielten, hatten sie auch schon den Scheitelpunkt des Kamms erreicht und die Pferde liefen so leicht und befreit, als würden sie bereits die Weide wittern, auf der sie sich von den Strapazen des zügigen Ritts erholen konnten.
Als Skar über den Rücken des vor ihm reitenden Quorrl einen Blick auf das überwältigende Tal vor ihnen erhaschen konnte, verstand er die Vorfreude der Pferde. Wie von einem gigantischen Daumen in die umliegende Hügellandschaft hineingedrückt lag eine liebliche Landschaft vor ihnen: Neben rötlich gefärbtem Gestein am Wegesrand, das sich in ein Feld metallisch glänzender Kiesel hineingegraben hatte, wucherten wild wachsendes Korn, hohe Gräser, gelbgrüne Büsche und kleinere, kräftig aussehende Bäume unterschiedlicher Arten, die sich weit hinabzogen in den Talgrund und dort mit kleineren und größeren Gärten und quadratisch angelegten Feldern verschmolzen. Der Quorrl vor ihm schob sich viel zu schnell wieder in sein Blickfeld, um die Gebäude genauer erkennen zu können, die im Zentrum des Tals gleichermaßen ausgewogen wie imposant aufragten, aber Skar hatte einen flüchtigen Eindruck von rötlichen, goldenen Farben, geschwungenen Dächern und verspielten Verzierungen, die sich harmonisch ergänzten. Eine Festung war das nicht und schon gar nicht ein Dorf oder eine Stadt. Wo, zum Teufel, schleppte ihn Marna hin? Er brauchte nicht lange auf eine Antwort zu warten.