Marna hatte sich ein paar Pferdelängen vor ihn gesetzt; jetzt ließ er sich zurückfallen und war schon wenige Sekunden später neben Skar.
»Wir sind gleich da«, sagte er kühl. »Ich gebe dir einen guten Rat: Halte dich zurück beim Einreiten. Ich lasse dich töten, wenn du auch nur eine falsche Bewegung machst. Ganz zu schweigen von dem Mädchen und dem Nahrak.«
»Was für eine falsche Bewegung sollte ich denn machen?«, knurrte Skar. »Ich bin gefesselt und inmitten einer halben Hundertschaft Quorrl. Kaum die richtige Voraussetzung, um dir die Kehle durchzuschneiden.«
Marna lachte sein hartes, falsches und unglaublich metallisch klingendes Lachen. »Du hast das ungehobelte Benehmen eines Fischgesichts, Ahnherr aller Satai«, sagte er. »Was allerdings keinen Unterschied macht. Denn niemand weiß, wer du bist.«
»Woher willst du dir dann sicher sein, dass ausgerechnet ich der Ahnherr deiner Satai bin?«
»Der Nahrak war gesprächig«, sagte Marna nachdenklich. »Auch wenn wir etwas nachhelfen mussten ...«
»Aber das ist nicht alles«, vermutete Skar. »Du hattest mich sowieso schon erwartet.«
»Natürlich ist das nicht alles«, sagte Marna ärgerlich. »Ich habe lange nach dem Original des Elften Buches suchen müssen, um zu verhindern, dass es in die falschen Hände fällt.« Er gab sich einen Ruck und schüttelte dann den Kopf. »Aber das ist jetzt, nachdem es wieder an seinem angestammten Platz ist, nicht mehr wichtig.«
Skar versuchte hinter den schmalen Sehschlitzen der Wolfsmaske eine Regung zu erkennen. »Was hat es denn mit diesem Elften Buch auf sich?«
»Nichts«, sagte Marna. »Rein gar nichts. Jedenfalls nichts, was dich interessieren müsste ...«
»Außer, dass es mein Schicksal beschreibt? Außer, dass du dringend danach gesucht hast, weil du dir aus ihm wichtige Hinweise erhofft hast - so wichtige Hinweise, dass du dich persönlich zum Fall am Ninga begeben hast, um dieses Buch aufzutreiben? Sonst nichts?«
»Sonst nichts«, sagte Marna schroff. »Alles Weitere werden wir im Tempel besprechen.«
Er wollte sein Pferd antreiben, aber Skar hatte nicht vor es soweit kommen zu lassen. »Auf ein Wort noch, Skarissa«, sagte er. »Was genau hast du mit mir vor? Willst du mich töten lassen? Oder hast du vor mich als heimliches Pfand jahrelang in einem Kerker verrotten zu lassen?«
Der Satai gab seinem Rappen mit einem kurzen Ruck am reich verzierten Lederhalfter zu verstehen, dass er sein Tempo nicht beschleunigen sollte. Hinter der Goldmaske war keine Regung erkennbar, aber Skar hatte dennoch das Gefühl, dass Marna die Frage unangenehm war. Er ließ sich lange Zeit mit einer Antwort und Skar spürte eine Erregung in sich wachsen, die ihm bis zum Halse schlug. Er konnte nur hoffen, dass dem Anführer der Satai seine Nervosität verborgen blieb.
»Ob ich dich töten lassen will?«, fragte Marna. »Was für eine Frage. Selbstverständlich will ich das. Du bist und bleibst ein unkalkulierbarer Risikofaktor ...«
»Selbst dann, wenn ich deine Quorrl-Politik in gewissen Punkten billigen und unterstützen würde?«
»Selbst dann«, antwortete Marna eisig. »Ich kann niemanden neben mir dulden und ich brauche schon gar keinen Verbündeten, der mit mir über grundlegende Entscheidungen diskutieren will. Was ich brauche, sind Gehorsam und Umsetzungskraft.«
»Ist das dein letztes Wort?«, fragte Skar, während er seine Unterarmmuskeln anspannte. Er wusste, dass er nur diesen einen Versuch haben würde - und dass er sich gut überlegen musste, ob er ihn überhaupt wagen sollte. Deshalb und nur deshalb war er bereit seine Aktion von der Antwort Skarissa Marnas abhängig zu machen.
»Selbstverständlich ist das mein letztes Wort«, sagte Marna gereizt. »Und sei gewiss: Dein Schicksal wird sich am Tempel der Andersgläubigen entscheiden ...«
Skar warf einen raschen Blick nach vorne: Durch die Quorrl hindurch konnte er bereits die ersten Umrisse der Tempel erkennen, von denen Marna gesprochen hatte, goldene Verzierungen auf roten Dächern mit merkwürdigen runden, rohrförmigen Ziegeln und fein ziseliertem Schnitzwerk, feucht vom Regen und glänzend im schwachen Licht der Sonne, die ihre Strahlen durch immer noch dicke Wolken schickte ... hier sollte sich sein Schicksal entscheiden? Aber nicht durch eine fremde Hand.
»Genug der Worte«, sagte Marna. »Ich habe dir sowieso schon viel zu viel erklärt. Aber andererseits ... du sollst doch zumindest wissen, dass dein Tod nicht umsonst ist!« Das gab den Ausschlag. Skar spannte seine Muskeln an - und diesmal riss der Lederriemen. Mit einer blitzschnellen Bewegung griff Skar Esannas Messer und schnellte nach links: Sein Arm schoss mit der Geschwindigkeit eines abgeschossenen Pfeils auf Skarissa Marna zu, packte den Satai und riss ihn an sich heran, während seine rechte Hand ihm Esannas Klinge an die Kehle setzte, direkt unter dem Ansatz des lächerlichen goldenen Helms.
Marna erkannte sofort die Ausweglosigkeit seiner Lage und versuchte erst gar nicht sich zu wehren. »Alle Achtung«, krächzte er. »Man hat sich nicht zu viel von dir erzählt.«
Skar hielt ihn mit so festem Griff umklammert, dass die beiden Pferde aneinander gedrückt wurden und die Sattelschlaufen aneinander rieben. Sein Herz raste und seine Gedanken überschlugen sich; er war sich durchaus bewusst, dass ihm das Schwierigste noch bevorstand: Esanna und Kama freizupressen und dann mit Marna als Geisel von hier zu verschwinden.
Die hinter ihnen reitenden Quorrl schlossen auf, die vor ihnen reitenden verlangsamten das Tempo und von einem Moment auf den anderen sah sich Skar eingequetscht von Pferdeleibern und gigantischen Gestalten, die ihre Zackenschwerter in Angriffsposition hielten und keinesfalls so aussahen, als würden sie ihre Attacke auf die lange Bank schieben.
»Nicht!«, schrie Marna. »Weg! Weg! Ich regle das schon selber.«
Einer der Quorrl drängte sein Pferd drohend an das von Skar und seine linke Klauenhand streckte sich vor, schloss sich um sein Bein und drückte unbarmherzig zu; Skar hatte das Gefühl, er wollte ihm bei lebendigem Leib das Bein vom Körper reißen. »Gib auf«, knurrte der Quorrl und es klang wie das Knurren eines Berglöwen, kurz bevor er zum tödlichen Sprung ansetzte.
Skar tat gar nichts. Er wandte lediglich den Kopf und erwiderte den Blick des Quorrl, starrte in die kalten, ausdruckslosen Reptilienaugen und fragte sich, was in diesem Krieger wohl vorgehen würde, wenn er jetzt Marnas Kehle mit einem sauberen Schnitt durchtrennte und er ihm den Kopf des Skarissas entgegenschleudern würde.
»Nein. Ihr sollt gar nichts!« Marna winkte mit der freien linken Hand; die Rechte hatte Skar durch seinen festen Griff gleich mit eingeklemmt. »Weg mit euch! Kommt uns nicht zu nahe! Ich habe die Sache im Griff.«
Einen fürchterlichen Augenblick lang sah es so aus, als ob sich die Quorrl einen Dreck um seinen Befehl scheren und sich auf Skar stürzen würden, gleichgültig, was dann mit Marna passieren mochte - so viel zu der Bemerkung, dass Skarissa Marna die Situation im Griff hatte - und Skar ritzte den Hals des Wolfsgesichtigen ein ganz kleines bisschen, aber tief genug, dass ein paar Blutstropfen über den Ansatz seines hochgeschlossenen Umhangs spritzten.