In diesem Moment waren die beiden hünenhaften Leibwächter Marnas heran. Zuerst fürchtete Skar, sie würden mit ihren erhobenen Schwertern auf ihn zustürmen, um ihn ohne Rücksicht auf Marnas Leben niederzumachen. Doch dann begriff er, dass sie genau das Gegenteil vorhatten. »Weg!«, brüllte einer von ihnen. »Weg, hat euch Skarissa Marna befohlen!«
Die Quorrl zögerten, doch dann wichen sie, immer noch in den Tross der Reiter eingebunden, widerwillig ein Stück zur Seite. Skar atmete auf, obwohl er wusste, dass es zu früh war, um so etwas wie Triumph zu empfinden: Die Situation stand im wahrsten Sinne des Wortes auf Messers Schneide und eine einzige falsche Reaktion, eine hastige Bewegung oder eine unüberlegte Geste konnten dazu führen, dass das ganze labile Gleichgewicht kippte und sich die Quorrl wie auch die Leibwächter auf ihn stürzten: gleichgültig, was dann mit ihrem Anführer geschah.
»Was willst du von mir?«, stieß Marna hervor. »Freies Geleit? Deine Freunde mitnehmen ...«
Er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Ein Rauschen erklang, ein gewaltiges Flügelschlagen in das sich ein Furcht erregendes Fauchen mischte und etwas Gigantisches, in vielfältigen Grüntönen Glänzendes, stürzte sich aus dem Himmel auf sie herab, getragen von gewaltigen ledernen Schwingen, mit vorgestreckten Klauen und einem weit aufgerissenen, gigantischen Gebiss; die Hölle selbst schien zum Leben erwacht zu sein und diese Kreatur ausgespuckt zu haben und Skar hätte gleichzeitig lachen wie auch wild aufschreien können, denn es war ein so unerwarteter und grauenvoller, aber gleichzeitig auch hoffnungsvoller Anblick, dass er im selben Moment tiefes Grauen wie auch grenzenlose Erleichterung empfand.
Der Frarr drehte kurz vor ihm ab und zog wieder ein Stück hoch. Der begleitende Luftzug war so gewaltig, dass er an Skar, Marna und den sie umgebenden Reitern vorbeifegte wie der Ausläufer eines Orkans und sie sich nur mit Mühe in ihren Sätteln halten konnten. Die meisten Pferde scheuten und innerhalb weniger Sekunden brach ein vollständiger Tumult aus; zwei, drei Pferde gingen durch und plötzlich beschleunigte der gesamte Trupp, teils angetrieben von einzelnen Reitern, die dem Furcht erregenden Drachen so schnell wie möglich zu entkommen trachteten, teils auch unfreiwillig, weil einige Quorrl und Satai kurzfristig die Kontrolle über ihre Tiere verloren hatten.
Marna versuchte die Situation zu nutzen, um sich zu befreien. Er warf den Kopf nach hinten und trat gleichzeitig mit seiner rechten Ferse in den Braunen - ungeachtet der Gefahr Skar damit zu einer schnellen Reaktion zu veranlassen, die ihn selbst das Leben kosten mochte. Aber er hatte Skar wohl richtig eingeschätzt: Statt das Leben des Goldbehelmten mit einem schnellen Messerschnitt zu beenden, versuchte er gleichzeitig sein Pferd zu beruhigen und Skarissa Marna weiter fest zu umklammern. Der Wolfsgesichtige schrie auf, als Skar so fest zudrückte, dass er ihm durch den Brustharnisch beinahe die Rippen brach, aber er gab nicht nach.
Skars Brauner preschte all seinen Bemühungen zum Trotz plötzlich los, während Marnas Rappe gleichzeitig einen Ausfallschritt machte und zur Seite tänzelte. Einen schrecklichen Augenblick hing Skar beinahe in der Luft; seine Körperkraft genügte nicht, um beide Pferde zu synchronen Bewegungen zu zwingen: Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich für eines der beiden Tiere zu entscheiden. Mit aller Kraft riss er Marna aus dem Sattel und zu sich herüber, während er sich gleichzeitig nach rechts warf und damit ihrer beider Gewicht so gut es ging austarierte.
Der Wolfsgesichtige strampelte wild mit Armen und Beinen und in einer anderen Situation hätte Skar angesichts dieser lächerlichen Befreiungsversuche wahrscheinlich laut aufgelacht. Doch so war er nur vollauf damit beschäftigt, sich auf dem durchgehenden Pferd festzuklammern, während er hinter ein paar Quorrl herpreschte, die gleich ihm ihre Tiere nicht mehr unter Kontrolle hatten. In diesem Moment kehrte der Drache zurück und spuckte Flammen und tödliche Hitze wie ein höllisches Bombardement, das ohne Unterschied und gleichermaßen auf sie alle niederzuckte, so als wollte der Frarr sie alle auf einmal auslöschen.
Und das war erst der Anfang.
Ein paar beherzte Krieger rissen Bogen oder Armbrüste hervor, spannten ihre Waffen und gaben ein paar hastige Schüsse ab. Die Pfeile und Bolzen jagten der Flugechse entgegen wie eine Insektenschar, die Ziel und Orientierung verloren hatte, und prasselten weit hinter dem Frarr zu Boden, als dieser bereits über ihren Köpfen vorbeigedonnert war. Mit heftigen Schlägen seiner gewaltigen Flügel sauste der Drache auf die Nachhut der Reitergruppe zu, als wollte er sie in Grund und Boden stampfen; erst kurz vor ihnen zog er wieder ein Stück hoch, doch nur so weit, dass die ledernen Schwingen in Höhe der Pferdeköpfe über die Reiter schrammten und ein paar Quorrl aus dem Sattel gehoben wurden und krachend zu Boden stürzten.
Wer nicht das Glück wie Skar hatte, schon weit genug vom Ort der Zerstörung entfernt zu sein, sprang freiwillig ab und eilte in den trügerischen Schutz der wenigen Bäume am Wegesrand. Waffen wurden gezogen, Bogen gespannt, Armbrüste schussfertig gemacht und Kommandos gebrüllt, doch dann war der Drache auch schon wieder heran, geschuppt und gigantisch und mit rot leuchtenden, bösen Augen, eine tobende Bestie, deren wuchtiger, peitschenschneller Schwanz ein paar herrenlose Pferde beiseite wischte, als wären sie lästiges Ungeziefer. In das schrille Aufjaulen der gepeinigten Tiere, das Schreien der Sterbenden und Verwundeten mischte sich ein neuer, furchtbarer Laut, kein Fauchen mehr, sondern ein Grollen wie das eines Sturmes, der mühelos gegen ein Haus anrennt und es zusammenstürzen lässt...
Ein gleißender Blitz zerriss den Tag und für die Dauer eines Lidschlags spiegelte sich das grausame Licht in Marnas Goldmaske und verlieh seinem Wolfsgesicht das Aussehen eines zornigen Gottes, der mit höllischem Feuer versuchte das Unabwendbare zurückzuweisen; aber es war nicht Marna, der über solcherart gewaltige Kräfte verfügte, sondern der Drache, der mit einer Feuersbrunst über sie herkam, die nichts Vergleichbares kannte und so unfassbar war wie das Khtaám in seinen grausamen wie bedrohlichen Manifestationen - aber kein bisschen weniger tödlich.
Bäume und Unterholz zerbarsten oder knickten um, als hätten Riesenfäuste auf sie eingeschlagen, regelrechte Explosionen erschütterten getroffene Menschen und Tiere und ein Quorrl, der dicht hinter Skar hergesprengt war, brach mit schwelender Kleidung in seinem Sattel zusammen, Gesicht und Hände furchtbar verbrannt und von züngelnden Flammen zerrissen. Skar glaubte flüssiges Feuer zu atmen. Die Hitzewelle fraß sich in seine Haut, als ob sie ihn bei lebendigem Leib verbrennen wollte, doch das Pferd jagte in riesigen Sätzen weiter, weg von der wabernden Wand aus Hitze und den alles verschlingenden Flammen. Das Gesicht eine Maske aus Grauen und Schmerz, die Kleider versengt und sein Haar schwelend, spürte Skar einen zweiten Schlag unbarmherziger Hitze, der ihn fast aus dem Sattel fegte und ihm Tränen des Schmerzes in die Augen trieb. Überall waren Feuer, Schreie und schwarze, brennende Dinge, die sich sein Bewusstsein weigerte, als das zu erkennen, was sie waren: reiterlose Pferde, die blind vor Angst und Schmerz hin und her liefen, Krieger, die verletzt waren oder denen der Schrecken den Verstand geraubt hatte.
Es hätte der Todeskampf der Welt sein können oder deren wahnsinnig übersteigerte Veränderung von einem gewalttätigen, aber halbwegs strukturierten Ganzen zum völligen Chaos; die Grenze zwischen Gut und Böse endgültig aufgesprengt, die Menschen hinausgestoßen in einen zerrissenen Wirbel widersprüchlicher, sinnloser Handlungen, die alle nur eins bedeuteten: Untergang und Vernichtung. Ein flatternder Wechsel zwischen sengenden Feuerstößen und rasenden Hitzewellen, zwischen bizarren Farbwirbeln und grotesken Mustern, bunten Kreisen, die sich auflösten und, Sonneneruptionen ähnlich, wilde Formen hinausschleuderten in eine bizarre Welt aus Licht und Bewegung, durch die der Feuer speiende Drache zog, unbekannten Regeln folgend auf einer verwirrenden Flugbahn, die jeden Ansatz zur Gegenwehr im Keim erstickte.