Ihr Blick irrte an Skar vorbei zu dem großen Tempel hinter ihnen, von dem sie höchstens noch fünfzig Schritte entfernt waren, wanderte nach links und blieb an einem kleineren, aber geradezu strahlend gestalteten Nebengebäude hängen. Ihr Gesicht wirkte noch immer bleich vor dem Hintergrund des bislang von den Flammen verschont gebliebenen Tempels - doch ihre Mundwinkel zogen sich plötzlich abfällig und voller Verachtung zusammen.
»Es ist im Tempel«, brüllte Skar, dem ihr verstohlener Blick nicht entgangen war. »In diesem gottverdammten Tempel!« Er packte sie am Arm und schleifte sie mit sich, raus aus dem flammenden Inferno und direkt auf das Portal der Tempelanlage zu, vor dem wie gezirkelt angelegte Blumenbeete davon kündeten, dass hier ein beschauliches Leben mit großer Sorgfalt und Liebe zum Detail gepflegt wurde - normalerweise. Doch davon konnte im Moment überhaupt nicht die Rede sein. Überall schwelte und brannte es und der Gestank glimmenden Leders und angekokelter Kleidung vermischte sich mit dem Odem der Feuersbrunst, deren Ausläufer bis in die Vorgärten des Tempels geschlagen waren und die heilige Ordnung der liebevoll gepflegten Pflanzen und Blumen von einer Sekunde auf die andere in ein zerknicktes und unansehnliches Durcheinander verwandelt hatte.
Marna hätte ihr Schwert ziehen und ihn angreifen können, aber sie war zu klug und vielleicht auch zu geschockt dazu, um diesen Moment zu einem Befreiungsversuch zu nutzen. Skar kochte vor Wut und er wollte nichts weiter, als mit Esanna, Kama und dem Buch von hier verschwinden, und sie musste spüren, dass er sich durch nichts aufhalten lassen würde, was ihn nicht wirklich gleich im ersten Ansatz zu Boden schmetterte. Sie stürmten an zwei Satai vorbei, die gekrümmt vor Schmerzen am Boden lagen, aber immerhin noch lebten. Skar verschwendete nicht einmal einen Blick an sie, sondern hatte nur Augen für die Gestalt, die wenige Meter hinter ihnen lag.
»Kama!«, schrie er. »Verdammt!«
Er hielt Marnas Handgelenk so fest umklammert, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als mit ihm in die Hocke zu gehen, als er sich neben den Nahrak hinkniete.
»Kama«, stammelte Skar. »Bist du in Ordnung?«
Die Lippen des Nahrak formten Worte, die vom Brüllen des Feuers hinweggerissen wurden, und seine Hände vollführten hektische, sinnlos erscheinende Bewegungen.
»Wo ist Esanna?«, brüllte Skar so laut, dass seine Stimme mühelos das Tosen und Dröhnen um sie herum übertönte. Im ersten Moment war der Blick des Nahrak leer und alles, was er darin las, war Angst. Dann blitzte Erkennen in seinen Augen auf; er keuchte, stemmte sich in eine halb sitzende, halb liegende Position hoch und umklammerte seinen Oberarm so fest, dass Skar überrascht zusammenzuckte. »Das Buch!«, keuchte er. »Such das Buch! Und dann flieh!«
»Nicht ohne dich«, sagte Skar, löste seine Hand und richtete sich auf. »Hilf mir, Marna. Wir müssen ihn von hier fortbringen.«
»Wen glaubst eigentlich vor dir zu haben«, zischte Marna. »Ich bin doch keinen Lastenträger.«
»Das ... Buch«, stammelte Kama. »Lass mich hier ... liegen. Nimm das Buch ... und flieh. Sie wollen nur dich!«
»Da könnte etwas Wahres dran sein«, sagte Marna und beugte sich zu Kama hinab. Zuerst glaubte Skar, sie wollte ihm helfen, doch schon bei ihren nächsten Worten erkannte er seinen Irrtum.
»Tu mir einen Gefallen und bring diesen stammelnden Idioten zum Schweigen«, sagte sie, während sie sich wieder aufrichtete. Jede Spur von Gefühl war aus ihrer Stimme gewichen und ließ ein Gefühl der Kälte und Distanz entstehen und ganz am Rande seines Verstands begriff Skar plötzlich, wie diese noch recht junge Frau die Herrschaft über die Satai hatte an sich reißen können.
»Ein Rufer«, sagte sie anerkennend, während sie sich von Kama wegdrehte, der offensichtlich wieder das Bewusstsein verloren hatte - schnell aber nicht so schnell, als dass Skar nicht noch einen Blick auf das glänzende Stück Metall in ihren Händen hätte erhaschen können. »Ich habe gar nicht geglaubt, dass es so etwas wirklich gibt.«
»Was soll das?«, sagte Skar scharf. »Leg das sofort weg!« Marna schüttelte den Kopf. »Aber nicht doch«, sagte sie so leise, dass ihre Stimme fast in dem Krach und Tosen um sie herum unterging, »ich kenne mich aus mit diesen Teilen. Das Studium der geheiligten Bücher war mir immer wichtiger als das Erlernen roher Gewalt. Vertrau mir, Skar.« Sie ging einen halben Schritt zur Seite - nicht so weit, dass er sie instinktiv gepackt und zurückgerissen hätte - und drehte sich weiter ab, und bevor er irgendetwas dagegen machen konnte, hantierte sie mit geschickt wirkenden Bewegungen an dem Teil herum.
»Dir vertrauen?« Skar hätte beinahe laut losgelacht.
In diesem Moment kehrte der Frarr zurück. Die Quorrl und Satai waren zu routinierte Krieger, um dem Monstrum kampflos das Feld zu lassen. Wer noch auf den Beinen war und eine Armbrust oder einen Bogen zur Hand hatte, bezog Stellung, nutzte ein totes Pferd, einen Baum oder die Leichen seiner Kameraden als Deckung. Der Drache schoss heran wie die Leib gewordene Verheißung alles Übel und alle Not auf dieser Welt mit dem Tod zu ahnden, und sein Feueratem fegte mit unbändiger Gewalt über die Bogenschützen hinweg, schmorte sie mitsamt ihrer Deckung weg, brannte sie wie Ungeziefer aus, bevor sie auch nur dazu kamen, einen einzigen gezielten Schuss abzugeben. Skar starrte gleichermaßen fasziniert wie entsetzt auf das Vernichtungswerk des Untiers, das nicht gewillt zu sein schien von seinem Wüten abzulassen, bis sämtliche Quorrl und Satai vernichtet waren. Kaum hatte es mit seinem heißen Atem eine Schneise der Vernichtung in den auseinander gerissenen Tross gebrannt, da zog es auch schon wieder ab und drehte über dem Tempel eine lang gestreckte Kurve, die es unweigerlich erneut in Angriffsposition bringen würde. Überall lagen Tote und Sterbende und die Schreie und das Wimmern der Verwundeten sangen eine fürchterliche Begleitmusik zu dem schrecklichen Bild. Nur knapp die Hälfte der Krieger, die sie zum Tempel geleitet hatten, hatten die mehrfachen Angriffe überlebt und bis auf die wenigen, die rechtzeitig in die Tempelanlage geflüchtet waren, war keiner ohne mehr oder weniger schlimme Brandwunden davongekommen. Skar beobachtete einen wie eine lodernde Feuersäule brennenden Mann, der wie von einem Schwerthieb getroffen zu Boden ging, sich mühsam hochstemmte, erneut fiel und auf Händen und Füßen weiterkroch, weg von der wabernden Wand aus Hitze und Flammen, obwohl es doch sinnlos war; schließlich brach der Todgeweihte nur wenige Schritte vor ihnen endgültig zusammen, das Gesicht eine Maske aus Schmerz und Grauen und die kohlschwarze Hand flehend nach vorne gestreckt.
Schaudernd wandte sich Skar ab.
Kama wimmerte und seine rechte Hand fuhr wie in Agonie nach oben und dann schlug er wieder die Augen auf. »Nicht«, stöhnte er voller Schrecken, als er sah, was Marna in den Händen hielt. »Nimm es ... ihr weg, Skar. Nur ich darf den Frarr rufen - oder wieder wegschicken.«
Es dauerte einen Augenblick, bevor Skar überhaupt begriff, was der Nahrak meinte. Marna hätte seine kurzfristige Unachtsamkeit ausnutzen können, um zu fliehen oder ihn anzugreifen; aber sie tat nichts dergleichen, sondern stand vollkommen in sich versunken da und hantierte konzentriert an dem Teil herum, das sie als den Rufer bezeichnet hatte. Ihre Finger glitten über das glänzende Stück Metall, als würde sie es liebkosen.
Mit einer schnellen und kraftvollen Bewegung packte Skar ihr Handgelenk und verdrehte es, bis sie den Rufer fallen ließ und er mit einem metallischen Geräusch auf einen Stein aufschlug und aus seinem Sichtfeld rollte.
»Es ist zu spät«, zischte sie.
»Wozu zu spät?«, fragte Skar voller Panik.
Sie gab einen Laut von sich, der irgendwo zwischen einem Lachen und einem abfälligen Schnauben lag. »Sieh selbst!«, triumphierte sie.
In Skar krampfte sich alles zusammen, als er einen Blick in den Himmel warf und den Feuerdrachen erneut auf sie zusausen sah. Es war genau wie bei seinem letzten Angriff - und doch ganz anders. Der Frarr rauschte heran und das Schlagen der mächtigen Drachenschwingen löste ein Pulsieren gewaltiger Energien aus, pflanzte sich weiter wie der magische Atem der Zeit, der ungehindert über alles gleitet und alles mit sich reißt, gleichgültig, ob sich ihm jemand entgegen stellen will oder nicht: ein faszinierender wie tödlicher Anblick, der in ihm die sichere Erwartung auslöste, dass die nächste Feuerwelle auch ihn, Kama und Marna treffen würde. Während er wie gelähmt dastand, zweifelte er keine Sekunde daran, dass das Untier das Vernichtungswerk mit seinem feurigen Odem vollenden wollte, getrieben von einem unbändigen Willen zur Zerstörung - oder von dem, was Kamas Ruf in ihm ausgelöst hatte, und damit von einer Absicht geleitet, die Skar selbst dann nicht begreifen konnte, wenn der Nahrak geglaubt hatte sie auf diesem Weg befreien zu können.