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»Skar«, schrie Esanna mit schreckensweiten Augen, während sie sich hustend aufrichtete und den Ärmel ihres Gewands vors Gesicht drückte, um sich vor dem Rauch zu schützen. »Hör auf! Es ist vorbei.«

Er riss die Klinge zurück und starrte Esanna an, als sähe er sie zum ersten Mal. In gewisser Weise stimmte das sogar: Es war ihm für ein paar Herzschläge lang so, als würde die Maske, die das Mädchen normalerweise trug, in sich zusammenbrechen, als sähe er hinter die Natur des Offensichtlichen, in eine unermessliche Tiefe, kalt, fremdartig und erschreckend, die ihn mit sich zu reißen versuchte in einen alles verschlingenden Strudel und doch gleichzeitig abstieß, ja, ausspie wie einen Fremdkörper, der er ja auch war und immer bleiben würde, und das trotz der engen Verbundenheit, trotz des eingewobenen Seins in eine höhere Gewalt, die alles umspannte und nichts umschlang, die allem innewohnte und doch kein Bestandteil war von irgendetwas - Dann zerstob die Vision. Vor ihm stand nichts weiter als ein fünfzehnjähriges, vollkommen verängstigtes Mädchen, schluchzend und am ganzen Körper bebend, und mit der berechtigten Furcht von dem flammenden Inferno verschlungen zu werden.

»Wir müssen das Buch retten«, brüllte Skar gegen das tosende Chaos an. »Es muss hier irgendwo sein.«

»Ja«, stieß Esanna bebend hervor. »Ich habe es gesehen. Es liegt auf dem Schrein.«

Skar warf einen Blick in die angegebene Richtung. Die Luft waberte vor Hitze und die dunklen Rauchpartikel, winzigen Todesboten gleich, schwirrten jetzt überall herum und bissen sich in seiner Kehle fest, als wollten sie ihn ersticken. Ohne zu zögern, packte er Esanna bei der Hand und zog sie mit sich.

Das Buch lag aufgeschlagen inmitten des bereits glimmenden Schreins. Es war ein schwerer, großer Band, eingebunden in goldverziertes Leder, und als er es in die Hand nahm, spürte er nicht nur sein beachtliches Gewicht, sondern auch die angenehm kühle und glatte Oberfläche dutzender von Edelsteinen, die in das Leder einbettet waren. Er richtete sich so hastig auf, dass ihn ein hämmernder Kopfschmerz beinahe wieder hinabgezwungen hätte; wenn er nicht durch die Flammen starb, würde ihn der giftige Rauch schneller in die Knie zwingen, als ihm lieb war - was für eine Ironie des Schicksals, dass er dem wütenden Angriff des Feuerdrachen entkommen war, nur um dann doch noch ein Opfer der Flammen zu werden.

»Nur weg hier«, brüllte er.

Esanna nickte, eine seltsam fließende Bewegung, die er durch den erstickenden Qualm nur schemenhaft wahrnahm. »Dort hinten«, schrie sie. »Es gibt einen Hinterausgang.« Hand in Hand stürzten sie in die von ihr angegebene Richtung.

Sie kamen nicht weit.

Er spürte kaum, wie ihn die Druckwelle, die durch das Zusammenstürzen der vorderen Gebäudeseite ausgelöst wurde, erreichte und zu Boden schleuderte. Er fiel, rollte haltlos über den Boden und prallte schmerzhaft gegen einen brennenden Balken. Seine Hand umklammerte immer noch das Elfte Buch. Esanna schrie irgendetwas, das er nicht verstand, und plötzlich waren überall Flammen und Rauch. Dort, wo die Feuersäule das Dach bereits zerstört hatte, gähnte eine gewaltige, gezackte Öffnung, aus deren Rändern Flammen schlugen. Die trockenen Balken brannten wie Zunder und das Feuer breitete sich mit unheimlicher Geschwindigkeit aus, viel schneller, als es eigentlich möglich war. Er hustete, stemmte sich mühsam auf Hände und Knie hoch und hielt nach Esanna Ausschau, unfähig auch nur eine einzige, weitere Bewegung zu vollbringen.

Dann entdeckte er sie; ihre Gestalt war nicht mehr als ein flirrender dunkler Schemen inmitten wütender Flammen. Er wollte nach ihr rufen, aber aus seiner Kehle drang nur ein heiserer Laut, und erst dann begriff er, dass sie durch die flirrende Hitze auf den Hinterausgang zutorkelte, nur wenige Schritte von ihm entfernt und doch so unendlich weit weg, dass er fürchtete sie nicht mehr zu erreichen - denn der Rauch und die Hitze hatten sich in seinen Lungen festgebissen und drohten seine verzweifelte Gegenwehr im wahrsten Sinne des Wortes im Ansatz zu ersticken.

Aber dann richtete er sich zu seiner eigenen Verblüffung endgültig auf und irgendetwas in ihm, eine Kraft, die nicht aus ihm selber zu kommen schien, sondern nur durch ihn geleitet wurde, ließ ihn sich vorwärts quälen, auf den Ausgang zu, durch den Esanna bereits in ein Nachbargebäude verschwunden war. Für einen endlosen, schrecklichen Moment sah Skar den stobenden Funkenregen, mit dem ein weiteres Stück des Daches neben ihm zusammenbrach, und die brennenden Holzstücke, die neben ihm auf den Boden donnerten.

Dann war er draußen.

3.10

Esanna hatte ihn weitergeführt, durch ein verwirrendes Labyrinth von Gängen, kleineren und größeren Räumen, geheimnisvollen Schreinen und reich ausgestatteten Reliquienkammern, und er hatte es widerspruchslos hingenommen, dass sie die Führung übernommen hatte, denn in ihm war nichts als eine unglaublich tief gehende Erregung und das Bedürfnis, nun endlich das zu studieren, was die Flammen von dem Elften Buch übrig gelassen hatten. Es war eine Art Schwelbrand, der Einband und Seiten ergriffen hatte, und den sie auch mit vereinten Kräften kaum hatten stoppen können in ihrem Bemühen dieses wichtige Buch zu retten, kaum dass sie selbst der Flammenhölle entkommen waren.

Jetzt waren sie angekommen, an ein Ziel, das Esanna für sie ausgesucht hatte: ein Raum, der ganz ähnlich war wie der, in dem das Elfte Buch wie eine kostbare Reliquie aufbewahrt gewesen war. Esanna hatte sich neben ihn auf den Boden gehockt, erschöpft und mit halb geschossenen Augen und rasselndem, hektischem Atem; womöglich hatte sie eine Rauchvergiftung davongetragen und er konnte nur hoffen, dass ihr Lebensfunke nach all den Anstrengungen und Strapazen nicht vollends erlosch.

Doch wenn er ganz ehrlich war: Im Moment interessierte ihn das nur wenig. Ein merkwürdiges Gefühl von Ehrfurcht ergriff ihn, als er den schwelenden Überrest des Buches in die Hand nahm und darin blätterte. Viele der Seiten waren zerstört, für immer ein Opfer der Flammen geworden, andere waren angekokelt und kaum noch zu entziffern. Und doch wuchs seine Erregung, während er den Band durchblätterte und sich festlas und es gab nichts in seiner Umgebung, was noch irgendwie eine Bedeutung für ihn hatte - nicht einmal die Tatsache, dass der gigantische, aus Holz gebaute Tempelkomplex dem Feuertod geweiht war und es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Flammen auch hier Einzug hielten.

Die Zeilen schienen wie eigenständige Lebewesen vor seinen Augen zu schwirren, während er ihre Bedeutung gleichsam in sich aufsog. Und doch dauerte es eine Weile, bis er die Zusammenhänge begriff. Aber dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Fausthieb und mit einem Mal schien ihm jeder Quadratzentimeter seiner Umgebung die Wahrheit entgegenzuschreien. Er war wie gelähmt, nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Seine Gedanken drehten sich im Kreise, immer und immer und immer wieder, ohne dass er in der Lage war ihren Ablauf zu ändern und ohne dass er wirklich in der Lage war zu fassen, was da eigentlich in ihm vorging.

Er war entsetzt, so entsetzt wie noch nie zuvor in seinem Leben.

Seine Existenz war mit dem Kaol aufs Engste verknüpft, enger, als er es sich je hätte vorstellen können, und mit der Erkenntnis kamen die Bilder ohne sein Zutun, schlugen mit der Wucht von Hämmern in seinen Geist, als könne er die Tür zu einer anderen, verbotenen Welt nun nicht mehr schließen, Bilder, die ihn aufsaugen wollten und ihn doch gleichzeitig hinausstießen in diese Welt, um das zu schützen, was von ihm Besitz ergriffen hatte ...