Die Zeit blieb stehen. Skar hatte geglaubt das höchstmögliche Maß an Entsetzen und Furcht kennen gelernt zu haben, aber das stimmte nicht und er begriff plötzlich, dass es immer eine Steigerung gab, dass das Unfassbare unendlich und die Furcht zu gewaltig war, um sie jemals zur Gänze erfahren zu können. Er verstand, dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte, um hinter das Geheimnis seiner Existenz zu kommen, dass das Elfte Buch ihm nicht darüber Aufschluss geben konnte. Wenn es ihm überhaupt weiterhalf, dann mit der Erkenntnis, dass Enwor tatsächlich auf den Abgrund der endgültigen Vernichtung zutrieb - und dass ihm eine Schlüsselrolle bei dem Versuch zukam genau das zu verhindern.
Nicht nur die Welt, in der er - widerstrebend - lebte, hatte sich verändert, sondern auch er selbst. Irgendwie ernüchterte ihn dieser Gedanke. Der Schmerz in seinem Inneren sank zu einem dumpfen Druck herab und mit einem Mal wurde er sich seiner Umgebung wieder bewusst; er spürte den warmen Lufthauch auf seiner Haut und den Rauch, der nun wieder in seinen Augen biss und sie tränen ließ und in seiner Kehle wie ein frischer Wundschmerz brannte: Die Flammen hatten sie gefunden und es konnte nicht mehr lange dauern, bis auch hier ein offener Brand ausbrach. Es hatte keinen Sinn mehr. Es hatte vielleicht nie einen gehabt. Aber... da war etwas. Ein vollkommen absurdes Gefühl. Eine Ahnung, nein, schon fast so etwas wie eine Gewissheit. Wenn das stimmte, was das Buch andeutete, wenn die Zeilen stimmten, die sich auf seinen Werdegang bezogen und sein Abenteuer im Wandernden Wald, wenn es mehr war als nur eine Finte, mehr als nur ein Puzzleteil in dem Ränkespiel, das gedacht war zu täuschen und in die Irre zu führen ...
DANN HATTE DER KAMPF GEGEN DAS KHTAÁM BEREITS BEGONNEN, NACHDEM ER DEL KENNEN GELERNT HATTE UND ALS EINFACHER SATAI MIT IHM DURCH DIE WELT GEZOGEN WAR!
Er hatte begonnen, als sie vollkommen unerwartet von Quorrl in der Nonakesh-Wüste angegriffen worden waren und nur mit viel Glück in den Wandernden Wald hatten fliehen können. Er hatte mit dem Angriff der gefährlichen Hoger seinen nächsten Höhepunkt gefunden - kaum dass sie den Wald erreicht hatten - und dann mit dem allerersten Angriff der Khtaám einen Wendepunkt bekommen, der ihn schließlich, nach vielen Irrungen und Wirrungen, hierher geführt hatte.
Das bedeutete, dass ihn das Khtaám schon von Anbeginn bekämpft hatte. Vielleicht war dieser Kampf nicht mehr als der Reflex einer Kreatur, die seit einer Ewigkeit auf ihr Ziel hingearbeitet hatte ...
Seit Jahrtausenden??? Seit Äonen??
... Getrieben von dem bohrenden Verlangen zu zerstören - wie Maden, die sich in einen Wirtskörper einnisteten und so lange ihr Vernichtungswerk trieben, bis sie ihren Wirt vernichtet hatten - verstümmeltes Fleisch, ein blutrünstiger Wahnsinn, der ihn verspottete und ihn in Stücke zerriss, eine schreckliche und erschreckende Wahrheit, der er nie entkommen konnte, weil sie auch in ihm war und ihn nie in Ruhe lassen würde, ihm keine Erlösung gewähren würde, so lange bis er nicht vollkommen eins geworden war mit der tödlichen Vernichtung ...
Der Kreis hatte sich auf perfide Art und Weise geschlossen!
Es war vollkommen unmöglich. Er fühlte eine innere Qual, die die Grenzen des Vorstellbaren überstieg. Niederlage. Vollkommene, kompromisslose Niederlage, ein Geschlagensein schlimmer als der Tod. Der Gedanke einen Fehler begangen zu haben, weil er sich nicht zuständig gefühlt hatte für diese Welt, weil er nicht alles getan hatte, was getan werden musste, um die Wirklichkeit in die Richtung zu verbiegen, die Enwor noch eine Chance lassen würde - dieser Gedanke wurde übermächtig.
In diesem Moment holte ihn die Wirklichkeit wieder ein: das Stampfen schwerer Säulenbeine, das Klirren von Waffen, leise gemurmelte Befehle, deren Wortlaut im Knistern und Knacken schwelenden Holzes unterging. Er wusste sofort, was das bedeutete: Sie hatten ihn gesucht und gefunden, sie waren seinen Spuren gefolgt und hatten vielleicht nicht nur ihn aufspüren wollen, sondern auch das Buch. Aber sie kamen zu spät. Er hätte sich nochmals zum Kampf stellen können, versuchen können gegen die Übermacht aus wütenden Quorrl und zu allem entschlossenen Satai anzutreten, die hier gleich auftauchen würde. Aber wozu? Mit welchem Ziel?
Er hatte mehr erfahren, als er hatte wissen wollen. Und außerdem war schon genug Blut geflossen.
»Skar«, flüsterte Esanna, die durch die Geräusche aus ihrem tiefen Erschöpfungszustand hochgeschreckt war. »Es kommt... jemand.« Sie sah sich gehetzt um. »Wir müssen verschwinden.«
»Zu spät«, murmelte Skar, der sehr genau wusste, was all die Laute zu bedeuten hatten, die sich wie ein erstickendes Netz um sie zogen. »Sie haben das Gebäude umstellt. Sie halten das Tal besetzt. Wir haben keine Chance.«
Die Stimmen und Schritte kamen näher, brachen plötzlich ab - und dann vernahm Skar das hinter sich, was er die ganze Zeit über befürchtet hatte: das helle Sirren, mit denen Schwerter aus der Scheide glitten, das Spannen von Armbrustsehnen, das Geräusch von aneinander reibendem Leder, das leise Klirren von Kettenhemden.
»Ich habe Euch erwartet, Skarissa Marna«, sagte Skar, ohne aufzusehen.
»Woher weißt du ...?«, erklang Marnas Stimme überrascht hinter ihm.
»Ich habe Euch an Eurem Schritt erkannt«, sagte Skar. »Doch seid versichert...«, er wandte den Kopf und das Erste, was er sah, war eine Schwertspitze, die genau auf sein Gesicht deutete, dann eine zweite, die sich seiner Brust bis auf eine Handspanne genähert hatte und jetzt dicht über seinem Herzen verharrte. Hinter den beiden Satai, die ihn mit ihren Schwertern bedrohten, ragten die massigen Gestalten mehrerer Quorrl auf; sie hatten Marna wie ein Kind in ihre Mitte genommen und schienen bereit zu sein sie notfalls mit ihrem Leben zu verteidigen - und welch bessere Leibwächter konnte man sich wünschen als diese Reptilienmonster? Als wäre das noch nicht genug, hatten sich neben dem halb zerschlagenen Türrahmen zwei Armbrustschützen aufgebaut, die so finster blickten, als würden sie ihn am liebsten gleich mit mehreren Bolzen zu Boden schicken.
»Ich habe nicht vor gegen Euch zu kämpfen«, fuhr Skar fort, »sondern vielmehr mit Euch: an Eurer Seite.«
Marna stieß ein hartes, krampfhaftes Geräusch hervor, das wohl ein Lachen sein sollte, aber eher wie ein abfälliger Laut klang. »Was hast du mit dem Buch angestellt, du Bastard?«, fragte sie, ohne auf seine Worte einzugehen. Irgendwie hatte sie es geschafft, inmitten des Chaos ihren Helm wieder aufzusetzen; aber er saß seltsam schief auf ihren Schultern und zerstörte damit den imposanten Eindruck, den er wohl hervorrufen sollte.
»Das Buch ist nicht mehr wichtig«, sagte Skar. »Wichtig ist nur das, was ich aus ihm erfahren habe.«
»Dass du nach deiner Wiederkunft der Retter der Quorrl sein wirst?«, fragte Marna. Ihre Stimme hatte einen fast freundlichen Klang, aber es war eine Freundlichkeit, hinter der sich unbarmherzige Härte und bitterer Hohn verbargen. »Es täte mir Leid, wenn du mit dem Gedanken an eine plumpe Erfindung irgendwelcher Schmierfinke in den Tod gehen würdest.«
»Ihr täuscht Euch«, sagte Skar. »Die Quorrl betrifft es nur am Rande. Es geht um ganz Enwor: Wenn wir nicht...«
»Halt den Mund«, unterbrach ihn Marna grob. »Dein dummes Geschwätz gleicht dem Gewinsel eines Köters, der um Gnade fleht. Und was das Schlimmste ist: Du redest den gleichen Unsinn wie dieser verfluchte Nahrak, den wir bereits in unserem Gewahrsam haben. Aber du hast mich falsch eingeschätzt: Ich werde dich und das Mädchen hier und jetzt töten lassen.«
Skar starrte schweigend in die Sehschlitze der goldenen Maske. »Es könnte sein, dass du diese Tat irgendwann bereuen würdest...«
»Das werde ich nicht«, stieß Marna hasserfüllt hervor. »Und selbst wenn ich es täte: Es wird mir ein Vergnügen sein, mich dabei an deinen Tod zu erinnern.«