»Nein, Skarissa.« Skars Stimme klang kalt wie Eis und selbst die höfliche Wahl seiner Worte klang wie eine Herausforderung. »Ich nehme mir nicht die Freiheit zu interpretieren: Ich habe die Wahrheit gespürt, ich habe sie in meinem Innersten die ganze Zeit über gewusst - spätestens seitdem ich an dem Fall von Ninga an Land gespült wurde, vielleicht sogar schon früher. In den letzten Tagen habe ich sie die ganze Zeit über vor Augen gehabt. Aber ich habe sie gleich dir nicht sehen wollen. Erst das Elfte Buch hat mir die Augen geöffnet.«
»Du redest irre.« Marnas Stimme war scharf wie ein Peitschenhieb - und doch klang darin auch etwas anderes mit, Angst, Entsetzen und Wut, die jederzeit wie eine flammende Eruption aufbrechen konnten. »Es sind die Quorrl, die das Gefüge gefährden. Es sind die Quorrl, die Vernichtung über Enwor bringen - und nicht die Digger!«
»Ihr täuscht Euch, Skarissa Marna«, sagte Skar dumpf. Er spürte ihren Widerstand, die Wahrheit - auch nur ansatzweise - begreifen zu wollen. Konnte sie denn immer noch nicht spüren, wie Enwor starb, Stück für Stück und unaufhaltsam? War sie denn nicht willens zumindest in Erwägung zu ziehen, dass sie und die Satai aufs falsche Pferd gesetzt hatten? »Ganz gleich, wie Euer Kampf endet«, fügte er bitter hinzu, »Enwor wird hinterher nicht mehr sein, was es vorher war. Wenn ihr die Quorrl vernichtet, wird es der letzte Kampf sein, der je von Menschen ausgefochten wurde. Wenn aber die Quorrl gewinnen - dann werden nicht nur die Digger und unzählige unschuldige Menschen getötet, sondern auch die Satai vernichtend geschlagen. Wollt Ihr das eine oder das andere?«
»Dazu wird es nicht kommen«, sagte Marna scharf. »Wir werden die Quorrl zurückschlagen - und SIEGEN! Wir werden die heilige Ordnung wieder aufbauen ...«
»Wann?«, preschte Skar voller Gewalt dazwischen.
»Wenn die Natur aus dem Gleichgewicht gekommen ist, wenn die Vegetation verendet, wenn unsere Städte einstürzen, wenn Sturmfluten gegen die Küsten anbranden?«
»Nemesis«, flüsterte Marna und einen Moment lang wirkte sie wie von einem Dutzend widerstrebender Gefühle überrannt. Doch dann schüttelte sie wütend den Kopf. »Es ergibt keinen Sinn. Überhaupt keinen. Du willst mich wissentlich täuschen - oder bist verblendet von Dingen, die über dich Macht gewonnen haben, um nicht nur dich, sondern auch uns zu verderben.«
Skar zuckte zusammen. Das Schlimme war, dass Marna in gewisser Weise sogar Recht hatte. Das Khtaám hatte versucht von ihm Besitz zu ergreifen, ihn Dinge tun zu lassen, die wider seine Natur waren; es hatte ihn dazu gebracht, die beiden Nahrak in den Schlund zu stürzen - als er dem Grauen ganz nah gewesen war, hatte es kurzfristig, vielleicht bloß für ein paar Sekundenbruchteile, von ihm Besitz ergriffen. Aber irgendetwas war schief und verkehrt und stimmte nicht an diesem Gedanken und er glaubte sogar jetzt seinen Einfluss in sich einsickern zu fühlen. Wie lange konnte er noch dagegen ankämpfen, was immer es auch war? Wie viel war schon von dem Gift in ihn eingedrungen, das ihn selber zum Werkzeug der Vernichtung Enwors machen wollte?
»Ist die Quelle deiner unsinnig sprudelnden Worte versiegt, Skar?«, höhnte Marna. »Hast du eingesehen, dass du mich mit deiner Verblendung nicht täuschen kannst?« Sie machte eine rasche Handbewegung. »Gleichwohl. Bringen wir es hinter uns.«
Skar schüttelte verzweifelt den Kopf. Ein entsetzlicher Verdacht begann in ihm Gestalt anzunehmen - und gleichzeitig die Furcht ihn Marna nicht mehr rechtzeitig mitteilen zu können. »Das Khtaám hat sich viel Zeit gelassen, um seinen Angriff zu planen«, sagte er voller Hast und tief empfundenem Entsetzen. »Und es hat sich überall Verbündete geschaffen. Ich gebe Euch den Rat: Schaut Euch genau an, mit wem Ihr in die Schlacht gegen die Quorrl zu ziehen gedenkt. Nehmt Euch einen Augenblick Zeit zu überlegen, warum Eure Verbündeten sich Euch angediehen haben - und unter welchen Bedingungen. Und überzeugt Euch davon, dass sie nicht das Zeichen der gleichen Kriegerkaste tragen wie die Quorrl, die mich und meinen Begleiter Del vor unendlichen Zeiten in der Nonakesh-Wüste angriffen und verfolgt haben.«
»Deine alten Heldentaten sollen etwas mit mir zu tun haben?«, spuckte ihm Marna voller Abscheu entgegen. »Das ist - grotesk!«
»Das Khtaám ist das, was hinter den Dingen steht«, stieß Skar erregt hervor. »Es ist der Schlund, es ist die Finsternis, es ist die Sturmflut, die das Land auszulöschen und unter sich zu begraben sucht. Aber gleichzeitig ist es wie das Geflecht - und vielleicht ist es ja Bestandteil von ihm, vielleicht ist es ja ein Bruderkampf, vielleicht ist es in Wirklichkeit nur ein anderer Bestandteil von ihm, der die endgültige Kontrolle zu erlangen versucht.«
Marna schnaubte. »Was soll das alles? Was hat das mit meinen Verbündeten zu tun?«
Ein Zittern durchlief Skar. »Die Quorrl, die mich und Del durch die Wüste hetzten und uns zu töten suchten, ohne dass wir einen Grund dazu gegeben hatten - sie haben das Zeichen der blauen Kriegerkaste getragen.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab, das so leise war, dass ihn Marna kaum noch verstehen konnte. »Sie waren schon damals von dem Khtaám ausersehen mich zu töten - um einen potenziell gefährlichen Gegner aus dem Weg zu räumen. Quorrl der blauen Kriegerkaste.«
»Schweig!«, donnerte Marna mit unerwarteter Energie, aber auch mit einem Entsetzen, das vielleicht - HOFFENTLICH! - bedeutete, dass sie begriffen hatte: Ihre Quorrl-Leibwache trug das Zeichen der blauen Kriegerkaste! »Deine Zeit ist um.«
Skar wollte aus dem ersten Impuls heraus widersprechen, Marna entgegenschleudern, dass es ihr nicht helfen würde, wenn sie die Wahrheit verleugnete, dass sie würde begreifen müssen, dass Wegschauen und Leugnen keine Strategie war, um das Unbegreifliche zu besiegen, das sich unter dem Namen Khtaám verbarg. Er wollte ihr begreiflich machen, dass sie sich dem Kampf stellen musste, solange sie noch konnte, dass es die Digger aufzuhalten galt und dass es verkehrt war, ausgerechnet die Quorrl, die nicht wie ihre eigenen Verbündeten vom Vernichtungswillen des Khtaám besessen waren, auszulöschen oder in ein Reservat zu stecken - all das und noch viel mehr wollte er ihr entgegenschreien ...
Aber dann begriff er. Es war irgendetwas an ihrer Haltung, das ihn an eine andere Zeit erinnerte. Als Hoher Satai hatte er sich im Angesicht unvorstellbarer Neuigkeiten nicht anders verhalten als sie jetzt. Er hatte versucht das Grauen zu begrenzen, die Zahl der Eingeweihten zu minimieren und Gespräche, die über die Grenzen des Vorstellbaren gingen, nicht vor zu vielen Augen und Ohren zu führen - und er hätte gar nicht anders handeln können, wenn er von Quorrl umgeben gewesen wäre, denen er von einem Schlag auf den anderen hätte misstrauen müssen.
»Es ist alles erstunken und erlogen«, fuhr Marna voller Abscheu fort, die teilweise echt und teilweise gespielt sein mochte. »Es ist beschämend zu sehen, wie ein Mann in Satai-Kleidung mir Lügen ins Gesicht schleudert, nur um sein Leben und das seiner jungen Gefährtin zu retten.« Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Skar die schreckliche Vorstellung, dass ihn Marna ohne weiteres Federlesen umbringen lassen würde, obwohl - oder vielleicht gerade weil - sie ihm glaubte. Aber dann gab Marna einen befehlenden Wink mit der Hand.
»Führt die beiden ab«, sagte sie. »Der Verräter soll nicht im Kleid eines Satais sterben. Gebt ihm andere Kleidung und bringt ihn dann zum Verhör in meine Gemächer in der Siedlung vor den Hügeln - aber in Ketten.«
Skar erhob sich langsam und vorsichtig, kam aus der Hocke hoch und stand schließlich vor Marna, während die beiden Klingen der Satai nach wie vor auf seine Kehle und sein Herz zielten. Er hätte alles darum gegeben, einen Blick hinter die goldene Wolfsmaske zu werfen, um festzustellen, was hinter Marnas Stirn vorging. Ihre Art gleichzeitig impulsiv und überlegen zu handeln, verwirrte ihn und er wäre nicht in der Lage gewesen zu sagen, was Schauspiel war und was Ernst.