»Das trifft sich gut«, antwortete Titch und trat neben sie. »Dann haben wir denselben Weg.« Die beiden lachten, drehten sich um und gingen nebeneinander davon, und mit jedem Schritt, den sie taten, entfernten sie sich nicht nur räumlich, sondern verloren auch mehr und mehr an Substanz; gleichzeitig wurde die Wirklichkeit realer, als glitte er unendlich langsam über die Grenze zwischen Traum und Wachsein.
Als die Vision endete, befand er sich noch immer am gleichen Ort. Er konnte sich nicht erinnern, sich bewegt zu haben, musste es aber wohl. Er saß noch immer auf dem Boden, aber die Wand in seinem Rücken, gegen die er sich gelehnt hatte, gehörte nicht mehr zu der Kammer, in der er eingeschlafen war. Das Dröhnen des Wasserfalles erfüllte die Luft. Etwas Schmales, Silbernes blitzte neben ihm auf dem Boden.
Es war der Ring. Der heilige Ring der Errish, den Kiina in den Wasserfall geworfen hatte. Er war zurückgekommen, so, wie auch Skar zurückgekommen war.
Warum?
Er hob den Ring auf, schob ihn jedoch nicht auf den Finger, sondern verbarg ihn in einer der zahlreichen Taschen, die in den Gürtel des toten Satai eingearbeitet waren. Dann stand er auf und ging mit langsamen Bewegungen zum Ende des Stollens.
Skar stand lange, endlos lange so da und starrte in die dröhnende Tiefe hinab. Er stand vor seinem Grab; einem Grab, in dem er für alle Zeiten hätte bleiben sollen und aus dem er zurückgekommen war; und er wusste nicht einmal, warum. Seine Erinnerungen kehrten nun immer schneller und schneller zurück. Aus dem Tröpfeln einzelner Gedanken war längst ein reißender Strom geworden, als wäre die Szene, die er mit angesehen hatte, vielleicht auch nur der bloße Klang seines eigenen Namens, der Schlüssel gewesen, der das Tor endgültig öffnete. Er erinnerte sich nun an alles. Sein Leben. Die entsetzliche Erkenntnis, wer er in Wirklichkeit war, was er war, der furchtbare Schmerz, als er begriff, dass der einzige Freund, den er jemals gehabt hatte, in Wirklichkeit sein schlimmster Feind gewesen war ...
Er war gestorben. Es war so, wie Kiina gesagt hatte: Er hatte es gewollt und Del war trotz allem der einzige Mensch auf der Welt, dem er gestattete, ihn zu töten. Doch nun war er wieder hier.
Und er wusste nicht einmal, warum.
Er hatte dieses neue, geschenkte Leben nicht gewollt. Und er war nicht freiwillig hier. Jemand hatte ihn geschickt. Doch welches Wesen - gleich ob Mensch oder Gott - hatte die Macht, dem Tod zu trotzen?
Skar zog den Heiligen Ring der Errish aus dem Gürtel, schob ihn sich nun doch auf den Finger - den einzigen, auf den er passte: den kleinen Finger der linken Hand - und betrachtete dann sehr nachdenklich genau diese Hand. Etwas stimmte nicht damit. Sie sollte nicht da sein. Er selbst hatte sie sich abgeschnitten, um sich des Sklavenarmbands zu entledigen, das ihn gefangen hielt. Er sah jedoch nicht einmal die winzigste Narbe. Seine Hand war unversehrt. Er bewegte die Finger und stellte keinen Unterschied zu seiner rechten Hand fest. Wer immer ihn hierher geschickt hatte, hatte ihm nicht nur das Leben zurückgegeben, sondern auch die Unversehrtheit seines Körpers.
Er ließ die Hand wieder sinken, drehte sich um und ging mit langsamen Schritten zurück in die Tempelfestung. Nun, wo er sich wieder an alles erinnerte, wusste er auch, wie er hier heraus und an die Oberfläche kam. Dort würde er die Antworten auf alle Fragen finden.
Er war nicht sicher, ob sie ihm gefallen würden.
Skar hatte die Kälte schon gespürt, lange bevor er das Tageslicht sah, das sich in die mattgrüne Helligkeit mischte, die die unterirdische Tempelfestung erfüllte: ein am Anfang sachter, aber unangenehmer Hauch, der rasch zu einem Prickeln und bald darauf zu wirklicher Kälte wurde, deren Intensität genau auf den schmalen Grat zwischen unangenehm und wirklich schmerzhaft pendelte. Als er endlich ins Freie trat, blinzelte er in die unerwartete Helligkeit hinaus und er war - gelinde gesagt - irritiert. Am Morgen war seine größte Sorge die gewesen, nicht in der Sonnenhitze zu verbrennen.
Hier oben lag Schnee.
Nicht besonders viel und längst nicht überall - die zerborstende Landschaft aus Mauerresten, Trümmern und kümmerlichem blassem Buschwerk, die sich vor ihm ausbreitete, war mit unregelmäßigen schmutzig weißen Flecken gesprenkelt, die zu einem Großteil bereits zu schmelzen begonnen hatten -, aber es hatte geschneit und in der Luft lag noch ein Hauch der beißenden Kälte, die diesen Schnee hervorgebracht hatte. Eigentlich, dachte Skar, war das unmöglich.
Aber das galt schließlich nicht nur für die Temperaturen hier.
Was er sah, war im Grunde noch viel unwahrscheinlicher.
Die Tempelfestung der Quorrl lag in Trümmern. Rowl und seine Bastard-Krieger hatten Wort gehalten und buchstäblich keinen Stein auf dem anderen gelassen. Die stolzen Mauern und Kuppeln waren geschleift, die dem Himmel trotzenden Türme eingestürzt, Wehrgänge und Dächer zertrümmert. So weit sein Blick reichte, sah er nur Ruinen und Chaos. Aber wie war das möglich? So wie das unterirdische Labyrinth war auch die Tempelfestung der Quorrl eine Hinterlassenschaft der Alten, die diese Welt erschaffen hatten, und so wie sie bestanden ihre Mauern aus Sternenstahl, einem Metall, das zu Recht als unzerstörbar galt. Nicht einmal das Sternenfeuer, das Elay verbrannt hatte, hätte diesen Mauern etwas anhaben können. Aber etwas hatte sie zerstört.
Skars Phantasie kapitulierte vor der Aufgabe sich die Gewalten vorzustellen, die notwendig wären, um eine solche Verheerung anzurichten. Magie, zweifellos. Dass er nicht an Magie glaubte, bedeutete nicht unbedingt, dass er ihre Existenz vollkommen ausschloss. Es war alles eine Frage des Standpunkts.
Außerdem gab es Dinge, die wollte er gar nicht so genau wissen...
Er machte einen vorsichtigen Schritt hinaus aus der halb zerschmolzenen Türöffnung, in der der Treppenschacht geendet hatte, und sah sich aufmerksam um. Er befand sich im vorderen Teil dessen, was von der Tempelfestung übrig geblieben war. Kaum ein Dutzend Schritte neben ihm zerbarst das Wasser des Flusses an einer Riffbarriere, um dann brüllend in die Tiefe zu stürzen. Diese Riffe waren neu. Das Wasser hatte Millionen und Abermillionen Jahre Zeit gehabt jedes Hindernis abzuschleifen und zu polieren, doch irgendeine unvorstellbare Gewalt - zweifellos die gleiche, die die Tempelfestung zerstört hatte - hatte den Flussgrund aufgebrochen und diese neue Barriere aufgetürmt. Das Wasser würde vielleicht wieder eine Million Jahre brauchen, um sie niederzureißen, vielleicht auch hundert; den Unterschied zwischen einem und hundert Lidschlägen in der geduldigen Zeitrechnung der Natur.
Er drehte sich weiter und mit jeder Sekunde, die verging, wuchs seine Anspannung. Dabei deutete nichts von dem, was er sah, auf irgendeine Gefahr hin. Er sah nur Ruinen, Schnee und halb erfrorenes Gebüsch. Aber etwas in ihm - der Krieger, der er trotz allem immer noch war - spürte die Gefahr, die sich hinter diesem Bild scheinbarer Normalität verbarg. Er hatte die beiden Toten nicht vergessen. Es mochte sein, dass sie der Kante zu nahe gekommen und einfach vom Wasser ergriffen oder von einer unerwarteten Windböe getroffen und in die Tiefe geschleudert worden waren, ebenso gut konnten sie auch gegeneinander gekämpft und sich so gegenseitig in den Tod gerissen haben. Ein Satai und ein Quorrl. Untrennbare Kampfgefährten oder unversöhnliche Feinde - das eine war so denkbar wie das andere. Und er war vermutlich gut beraten, von der schlimmeren der beiden Möglichkeiten auszugehen.
Wie sich zeigte, vermutlich mit Recht. Während er sich langsam dem Ufer der künstlichen Insel näherte, die inmitten des Flusses errichtet war, fand er deutliche Spuren eines Kampfes. Einem weniger geübten Auge als seinem wären sie vermutlich entgangen, aber für Skar waren sie so deutlich, wie es nur ging: Ein Stück zerrissener Stoff hier, eine zerbrochene Waffe da, Blut, das an einem Mauerrest einzutrocknen begann, eine Handvoll zerborstener, metallischgrüner Schuppen ... er konnte nicht sagen, wer wen angegriffen oder gar, wer den Sieg davongetragen hatte, aber ihm wurde doch bald klar, was hier passiert sein musste. Eine der beiden Gruppen - Mensch oder Quorrl - hatte im Schutze der Ruinen ihr Nachtlager, aufgeschlagen und war von der anderen - Satai oder Ungeheuer - überfallen worden. Der Kampf musste erbittert gewesen sein, aber das wunderte Skar nicht: Ein Zusammenprall zwischen den bestausgebildetsten Kriegern Enwors und den gefürchteten Reptilienmännern konnte nur erbittert sein.