»Hallo«, sagte Skar.
Das Mädchen antwortete nicht, sondern sah ihn nur aus Augen an, die die Furcht dunkler erscheinen ließ, als sie waren. Noch größer allerdings war die Neugier, die darin glitzerte.
»Komm ruhig rein«, sagte Skar. »Ich fresse keine kleinen Mädchen. Jedenfalls heute nicht. Wie ist dein Name?«
»Esanna«, antwortete das Mädchen. »Ich bin ... Roun ist mein Vater.«
»Ich weiß.« Skar machte eine Geste zu Esanna, die Tür zu schließen und sich zu ihm an den Tisch zu setzen. Während sie gehorchte, warf er einen Blick an ihr vorbei nach draußen. Der Platz war wieder fast leer, obwohl erst einige Augenblicke vergangen waren. Vermutlich hatte Roun dafür gesorgt, dass sich die Menge zerstreute. Aber Skar konnte die Spannung regelrecht fühlen, die sich über dem kleinen Ort ausgebreitet hatte.
»Ich ... möchte Euch nicht stören, Herr«, begann Esanna zögernd. Ihre Stimme schwankte ganz leicht. Sie hatte Angst vor ihrem eigenen Mut und bedauerte vermutlich längst überhaupt hergekommen zu sein. »Ich wollte nur ...« Sie brach ab, streckte die Hand aus und zog den Arm wieder zurück, kurz bevor sie ihn berührt hätte.
»Darf... darf ich Euren Mantel berühren, Hoher Herr?«
»Wenn du aufhörst mich Hoher Herr zu nennen, ja.« Skar lächelte. »Mein Name ist Ska.«
»Skar?« Esannas Augen wurden groß. »So wie der Heilige Skar?«
»An mir ist nur sehr wenig Heiliges, fürchte ich«, seufzte Skar. »Mein Name ist Ska, nicht Skar. Mein Vater hat wohl nicht geahnt, was er mir antat, als er mir diesen Namen gab.«
»Es ist ein sehr berühmter Name«, antwortete Esanna. »Nicht dort, wo ich herkomme. Er hat mir bisher mehr Ärger als Vorteile eingebracht.« Wen glaubte er mit dieser Geschichte zu überzeugen? Sie klang ja sogar in seinen eigenen Ohren lächerlich. Nicht einmal dieses Kind hätte sie ihm geglaubt, wäre es nicht von seinem Erscheinen und seinem Schwert so beeindruckt gewesen, dass es praktisch keinen klaren Gedanken fassen konnte.
Esanna streckte abermals die Hand aus und sah ihn fragend an. Als Skar nickte, führte sie ihre Bewegung zu Ende und strich scheu mit den Fingerspitzen über seinen Mantel. »Darf ich ... Euer Schwert berühren, Herr?«, fragte sie. »Gern«, antwortete Skar lächelnd. »Verrätst du mir auch, warum?«
»Es heißt, es bringt Glück, das Schwert eines Satai zu berühren«, sagte Esanna.
»Nicht jedem«, sagte Skar. »Glaub mir, Kind, nicht jedem.« Esannas Gesicht spiegelte einen Moment lang Verwirrung wieder, dann aber siegte ihre kindliche Neugier und sie zog die schmale Klinge aus schwarzem Sternenstahl aus ihrem Futteral an Skars Gürtel. Obwohl sie fast so groß wie er und trotz ihres schlanken Wuchses eigentlich kräftig war, musste sie beide Hände zu Hilfe nehmen und es fiel ihr sichtbar schwer, die Waffe nicht fallen zu lassen. Der Anblick amüsierte Skar, aber er führte ihm auch vor Augen, wie groß die Kluft zwischen ihnen war. Sternenstahl war nicht nur unzerstörbar, sondern auch schwerer als jedes andere Metall, das Menschen jemals geschaffen hatten.
»Sei vorsichtig«, sagte Skar. »Es ist sehr scharf.«
»Und sehr schwer.« Esanna runzelte die Stirn. »Es ist kein Blut daran. Mein Vater hat erzählt, dass Ihr einen Quorrl damit erschlagen habt.«
»Nichts haftet an diesem Metall«, antwortete Skar. »Und es rostet auch nicht.«
»Das ist Sternenstahl, nicht wahr?« Esannas Stimme war der Stolz auf ihr eigenes Wissen deutlich anzuhören. »Manche sagen, dass die Götter selbst es von den Sternen geschickt haben.«
»Ja, das sagt man.« Skar nahm dem Mädchen das Tschekal aus der Hand und schob es wieder in seine Scheide zurück. »Und andere wieder behaupten, dass unsere Vorfahren selbst es von den Sternen mitgebracht haben.«
»Unsere Vorfahren?« Esanna blinzelte. »Wie können sie zu den Sternen gereist sein? Es sind nur Lichter am Himmel. Und außerdem wohnen die Götter dort oben.«
»Vielleicht ist dieser Unterschied gar nicht so groß, wie du meinst.« Skar stand auf und ging ein paar Schritte, um seinen Kreislauf in Schwung zu bringen. Während er mit dem Mädchen sprach, hatte sich eine Schwere in seinen Gliedern ausgebreitet, die ihm missfiel. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und durfte müde sein, aber nicht so müde. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
»Dieses Schwert.« Esanna deutete auf den ziselierten Griff des Tschekal. »Werdet Ihr es benutzen?«
»Nur wenn ich muss.«
Esanna schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Um uns zu verteidigen.«
»Verteidigen?« Skar blieb stehen. »Gegen wen?«
»Gegen die Quorrl. Mein Vater hat gesagt, dass Ihr hier seid, um dem Ruf zu folgen. Aber er will Euch trotzdem bitten für eine Weile hier bei uns zu bleiben.«
»Dein Vater hat dir vor allem gesagt, dass du nicht hierher kommen und unseren hohen Gast belästigen sollst.« Roun schob die Tür mit dem Fuß hinter sich zu, bedachte seine Tochter mit einem strafenden Blick und trug das Tablett zum Tisch, das er mit hereingebracht hatte. Es enthielt eine Schale mit Fleisch, mehrere Scheiben dünn geschnittenen schwarzen Brotes und einen Becher Wein. Ohne ihn probieren zu müssen, wusste Skar, dass er dünn und viel zu süß war.
»Bitte verzeiht meiner Tochter, Herr. Sie hat...«
»... mich bestens unterhalten«, sagte Skar, während er Esanna verschwörerisch zublinzelte. »Ich sollte dir böse sein, dass du sie mir vorenthalten hast, Roun. Sie ist ein sehr aufgewecktes Kind.«
Roun lächelte nervös und deutete auf das Tablett. »Euer Essen, Herr.« Er schien geradezu krampfhaft darum bemüht zu sein, das Thema zu wechseln. Der Grund dafür war nicht besonders schwer zu erraten.
Skar nahm wieder Platz, schlug seinen Mantel zurück und begann ohne sonderlichen Appetit zu essen. Er war hungrig, aber er musste sich trotzdem beinahe zwingen jeden einzelnen Bissen herunterzuwürgen. In seinem Mund war noch immer der gleiche schlechte Geschmack, mit dem er am Morgen aufgewacht war.
»Es schmeckt Euch nicht, Herr«, sagte Roun, nachdem er ihm eine Weile schweigend zugesehen hatte.
»Das Essen ist gut«, erwiderte Skar. »Es liegt nicht daran, sondern an mir.« Er schob das Tablett davon, obwohl er kaum die Hälfte des Fleisches und gerade eine Scheibe Brot verzehrt hatte; wenige Bissen, die seinen Hunger mehr geweckt als gestillt hatten. Trotzdem spürte er, dass er nichts mehr herunterbekommen würde. Er wiederholte noch einmal in Gedanken, was ihm schon längst klar war: Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Andererseits: Für einen Mann, der eigentlich tot sein sollte, befand er sich in einer erstaunlich guten Verfassung.
»Seid Ihr krank?«, erkundigte sich Roun besorgt.
»Wahrscheinlich nur müde«, antwortete Skar. »Ich war lange unterwegs. Alles, was ich brauche, ist ein wenig Ruhe. Selbst ein Satai wird dann und wann einmal müde.«
»Ihr könnt hier bleiben, so lange Ihr wollt«, sagte Roun. »Es ist uns eine Ehre, Euch Unterkunft zu gewähren.«
»Und während ich mich ausruhe, könnt ihr weiter versu- eben mich zum Bleiben zu überreden.« Skar lächelte matt. »Erzähl mir etwas über euch, Roun. Ihr seid noch nicht lange hier, nicht wahr?«
»Wir sind Digger«, antwortete Roun. »Man findet viel Kaol in der Nähe des Sturzes.«
Skar hatte weder eine Ahnung, was ein Digger war, noch Kaol. Aber er hütete sich eine entsprechende Frage zu stellen. Er benahm sich ohnehin schon auffälliger, als gut war. Stattdessen sagte er: »Und eine Menge Quorrl.«
Roun fuhr ganz leicht zusammen und unterdrückte im letzten Moment ein nervöses Lächeln.
»Lassen wir es gut sein«, sagte Skar. »Ich bin müde. Vielleicht setzen wir das Gespräch fort, wenn ich mich ausgeruht habe.«
»Selbstverständlich, Herr«, sagte Roun hastig. »Verzeiht. Ich wollte Euch nicht bedrängen.«