Ein paar Sekunden lang schien die Zeit stehen zu bleiben. Noch immer tobte hinter ihnen ein erbitterter Kampf; ein paar Hütten weiter hatten sich ein paar züngelnde Flammen zu einem regelrechten Brand ausgebreitet, der sicherlich schnell weiter um sich greifen würde - die schlichten, eng zusammenstehenden Hütten würden einer wütenden Feuerwalze nicht lange standhalten - und der um den Dorfplatz konzentrierte Widerstand der Digger schien sich noch einmal zu steigern, dem letzten Aufbäumen eines Todkranken gleich, der nicht bereit ist in sein Schicksal einzuwilligen.
Als die Quorrl nicht reagierten, setzte Skar noch einmal nach: »Bitte, lasst mich durch.«
Erst dann begriff er, warum die Reptilienkrieger nichts unternommen hatten. Wie schon einmal kurz zuvor warteten sie auf die Entscheidung ihres Kommandeurs, der sich vor sie schob und Skar mit einem undefinierbaren Blick musterte. »Was verlangst du, Mensch!«
»Ich verlange nicht, ich bitte dich«, sagte Skar rasch, »und zwar um freies Geleit für mich und meine Begleiterin.« Der Quorrl erstarrte mitten in der Bewegung. In seinem ausdruckslosen Reptiliengesicht zuckte es; für einen Quorrl ein Zeichen äußerster Erregung.
»Lasst das Menschenkind los«, sagte der Schuppenkrieger. Es war keine Bitte, nicht einmal eine halbwegs höfliche Aufforderung, sondern ein Befehl und genauso gut hätte er auch sein Schwert ziehen können, um seine Worte mit einem kraftvollen Hieb zu unterstreichen.
»Das halte ich für keine gute Idee«, sagte Skar leise. »Ihr habt doch, was ihr wolltet: eure Rache.« Er war sich dabei bewusst, dass ein einziges falsches Wort reichen würde, ein winziger Funke, ein missgedeuteter Blick oder eine zu hastige Bewegung und die Quorrl würden sich auf ihn stürzen: oder aber die Digger.
Die Augen des Quorrl schienen zu brennen, als er ihn anstarrte. Sein Gesicht war verzerrt und sein rechter Arm zitterte, als böte er all seine Kraft auf, das Schwert nicht aus der Scheide zu reißen und sich damit auf Skar zu stürzen. Dann entspannte er sich, nickte kurz. »Ich habe, was ich wollte, Mensch, auch wenn es etwas anderes ist, als du und deinesgleichen je verstehen werdet.«
»Lass mein Kind runter«, schrillte in diesem Moment eine Stimme. Es war Roun, ein von den Ereignissen der letzten Stunde vollkommen verwirrter und innerlich gebrochener Mann, den einzig und allein sein Hass vorantrieb, ein Vernichtungswille, wie ihn Skar schon bei vielen Menschen in Extremsituationen beobachtet hatte und der sich doch bei dem Digger in einer unbegreiflichen Nuance von dem ansonsten Üblichen unterschied. Es war verständlich, dass er seine mittlerweile heftig strampelnde Tochter nicht dem Mann anvertrauen wollte, dem er die Vernichtung seines Dorfes zuschrieb, aber eigentlich hätte auch er begreifen müssen, dass einzig und allein Skar für ihr mögliches Überleben garantieren konnte.
Als sich Roun auf ihn stürzte, tat Skar das Einzige, was ihm als Möglichkeit blieb, um das Leben des Diggers zu schützen: Er wirbelte mitsamt Esanna auf dem Rücken herum und trat mit aller Kraft zu. Der wuchtig geführte Tritt schleuderte den Mann zurück, als wäre er ein hilfloses Kind, aber das war er nicht, denn als er sich mühevoll wieder aufrappelte, blitzte in seiner Faust etwas auf, ein Messer wahrscheinlich, mit dem er einen neuen Angriff starten wollte.
Skar ließ ihm nicht den Hauch einer Chance. Sein Fuß traf die Rippen des Mannes und hob ihn damit ein Stück hoch, bevor er ihn wieder auf den Boden krachen ließ. Roun stöhnte auf und krümmte sich wie ein Säugling. »Hund«, wimmerte er. »Du verdammter Verräter. Du ... du stehst auf ihrer Seite. Du...«
»Ich stehe auf niemandes Seite«, unterbrach ihn Skar kalt. »Es war ein Fehler von dir zu glauben, du könntest mich kaufen, um auf Quorrl-Jagd zu gehen.«
Einen winzigen Augenblick lang fürchtete Skar, damit zu weit gegangen zu sein; und das war er wohl in der Tat. Einer der Quorrl griff ihn ohne Vorwarnung an, stieß sein Schwert nach vorne, als wollte er den Satai wie eine lästige Fliege aufspießen. Skars Schwert beschrieb einen präzisen Halbkreis und blockte mit der stumpfen Seite die Waffe des Quorrls ab. Der Schlag war mit Kraft geführt und doch nicht stark genug, um den tödlichen Schlag des geschuppten Giganten vollkommen blocken zu können; um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, musste der Satai einen Schritt zurücksteppen.
Das war genau die Situation, die er befürchtet hatte: die Eskalation, die dazu führen würde, dass ihn im Zweifelsfall Digger und Quorrl, wenn auch nicht gemeinsam, so doch gleichzeitig angreifen würden. Doch er hatte die Rechnung ohne den Anführer der Reptilienmänner gemacht.
»Genug«, donnerte der Quorrl und in seinen Augen blitzte es, als er mit diesem einen Wort der Attacke seiner Artgenossen ein Ende bereiten wollte.
Der Quorrl, der ihn angegriffen hatte, ließ seine Waffe mit einem murrenden Geräusch sinken, doch seine Reaktion auf den Befehl war so halbherzig, dass Skar fürchtete, er würde ihn einfach ignorieren und den Angriff weiter fortführen - bis ihm plötzlich bewusst wurde, dass er eine solche Reaktion geradezu provozierte: Er hielt noch immer sein Tschekal drohend in der Hand. Angesichts des halben Dutzend Giganten, die ihn mit gezogenen Waffen umringten und nur durch den Befehl ihres Anführers davon abgehalten wurden, ihn schlicht und einfach zu überrennen, musste das reichlich lächerlich wirken: Was hatte er geglaubt zu sein? Ein Einzelkämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit?
»Ich bitte dich im Namen der Menschlichkeit«, hörte er sich selbst sagen, während er sein Tschekal in den Schwertgurt gleiten ließ, »lass mich und das Mädchen in Frieden ziehen.«
»Im Namen der Menschlichkeit?« Der Anführer der Quorrl schüttelte traurig den Kopf, als hätte er von dem Satai etwas anderes erwartet als gerade eine solch abstruse Bitte.
»Nenn es, wie du willst.« Skars Stimme klang flach, nur ein heiseres, fast ausdrucksloses Flüstern, und so fühlte er sich auch: leer, kalt, erstarrt durch den Anblick der geschuppten Giganten und betäubt von der Woge finsterer, zerstörerischer Macht, die die Quorrl ausstrahlten.
»Das Mädchen gehört nicht zu dir«, stellte der Quorrl fest. »Sie gehört zu den Diggern.«
»Das kann sein«, gab Skar zu. »Zumindest war es bislang so.«
Der Schuppenkrieger schüttelte fast angewidert den Kopf. Skar kannte die Gemütsregung der Reptilienmänner gut genug, um zu wissen, dass er aufs Äußerste gereizt war. »Du verlangst viel«, sagte der Geschuppte schließlich. »Dein Leben gegen mein Leben? Ist das die Menschlichkeit, von der du sprichst?«
»Es ist zumindest ein für Menschen nicht ganz unüblicher Handel.«
»Ein Handel?« Die Stimme des Quorrls klang jetzt eindeutig verächtlich und der Satai begriff, dass er ein vollkommen unpassendes Wort gewählt hatte. Was war bloß los mit ihm? Es war schließlich nicht gerade das erste Mal, dass er es mit Quorrl zu tun hatte.
Vielleicht war es ganz gut, dass der Quorrl nicht mehr zu der Antwort kam, zu der er angesetzt hatte: Roun stemmte sich mit einer erstaunlich schnellen Bewegung hoch. »Du Schwein!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Das wirst du mir büßen!«
Bevor Skar etwas zu seiner Verteidigung unternehmen konnte, riss der dem Digger am nächsten stehende Quorrl den Mann hoch, zog ihn zu sich heran, wie eine Mutter ihren Säugling zum Stillen an sich ziehen würde, und schleuderte ihn, ehe es Skar verhindern konnte, mit aller Kraft zu Boden. Roun schrie gellend auf und versuchte abermals auf die Füße zu kommen, aber seine Kraft reichte nicht mehr; er stürzte erneut und blieb wimmernd liegen. Dann erschlaffte der Mann so abrupt, als wäre er nicht mehr als eine Marionette gewesen, deren Fäden urplötzlich durchschnitten wurden.