Esannas Vater war tot.
ZWEITER TEIL: In der Falle
ZWEITER TEIL
In der Falle
2.1
Irgendwann mitten in dieser stürmischen und eiskalten Nacht erwachte Skar, atemlos und gehetzt und voller Unruhe. Er hatte geträumt, etwas Entsetzliches, unbeschreiblich Grauenhaftes, aber er erinnerte sich an kaum mehr als ein Gefühl unendlicher Panik, das sich wie ein schwerer Druck auf seine Brust gelegt hatte. Trotzdem glaubte er für einen Moment dünne Fäden zu sehen, die sich um seinen Körper wanden, mit ekelhaft viel Verästelungen und zielgerichteten Bewegungen, so als wollten sie ihn einweben wie in einem gigantischen Spinnennetz, in dessen Mitte ihm das Schicksal die Rolle als Beute zugedacht hatte und in ihm war eine Panik, als griffen eiskalte Finger nach ihm, die ihm die Luft zum Atmen aus dem Körper pressen wollten.
Der Sturm heulte noch immer mit ungebrochener Wut und trieb eisige Ausläufer in den Schutz der Höhle, in der sie kurz vor der Dämmerung Zuflucht gefunden hatten. Sie hatten großes Glück gehabt, dass sie den tobenden Naturgewalten noch in letzter Sekunde entkommen waren, und auch wenn die Höhle feucht, dunkel und muffig war und die strenge Ausdünstung von Tierkot ihn anfangs fast zum Würgen gebracht hatte, war sie ein ideales Versteck, ein Unterschlupf, um wenigstens in dieser einen Nacht zur Ruhe zu kommen. Doch statt sich auch nur halbwegs entspannen zu können, hatte er erst mit Esanna einen erbitterten und vollkommen sinnlosen Streit geführt und hatte dann lange nicht einschlafen können; dabei hätte schon alleine der eiskalte Wind gereicht, um ihm einen höchst unruhigen Schlaf zu bescheren.
Merkwürdigerweise fror er nicht, im Gegenteil; er schien von Innen heraus zu glühen, so als hätte er starkes Fieber. Zu allem Übel hatte er entsetzlichen Durst, aber ihm fehlte selbst die Kraft, sich mit der Zunge über die Lippen zu fahren, und er erwachte auch nicht wirklich. Es war, als gestatte ihm der Traum - der kein Traum als solcher war, sondern ein unbegreiflicher Ausläufer dessen, das ihn hierher gebracht hatte - nur einen kleinen Ausflug an den Rand der Wirklichkeit, um ihm zu zeigen, dass er nichts weiter als ein Spielball unbekannter Kräfte war.
Doch die Szene, in der er sich wieder fand, war nicht die Gegenwart, konnte nicht die Gegenwart sein. Etwas hatte sich verändert. Er fand sich wieder in einer Vergangenheit, doch diesmal waren es nicht die Schatten seines früheren Lebens, nicht die Erinnerung an Del und Kiina, die nach ihm griffen, sondern etwas ganz Nahes, zu traumhaft, um vollkommen überzeugend die gestrigen Ereignisse im Detail wiederzugeben und doch so nah an der Realität, dass es fast körperlich greifbar war. Er sah sich vor Gor stehen, vor dem gewaltigen Quorrl, der ihn aus irgendeinem unbegreiflichen Grund schon bei ihrer ersten Begegnung wieder erkannt zu haben glaubte, und um das Leben Esannas schachern. Doch ganz anders als in der gestrigen Wirklichkeit standen hinter dem Quorrl nicht nur wenige Schuppenkrieger, sondern eine riesige Armee, die wie ein endloser Ozean hinaus in ein gewaltiges Tal brandeten, sich auf den Hängen aneinander drängten, kaum genug Platz habend für ihre gezogenen Zackenschwerter und das andere Kriegsgerät, das sie für ihren Vernichtungsfeldzug gegen die Digger mitschleppten. Er sah sich Esannas Hand ergreifen, als wäre sie sein eigen Fleisch und Blut, als wäre sie seine wieder auferstandene Tochter Kiina, deren Gebeine in der Wirklichkeit schon längst vermodert sein mussten, oder mehr noch, die Tochter, die er sein ganzes Leben lang in seinem Herzen getragen hatte, ohne ihr Abbild jemals auch nur im Entferntesten in der Wirklichkeit zu finden.
Die Szene verblasste, wurde zuerst seltsam farblos und doch gleichzeitig so intensiv, dass ihn das Geschehen fast schmerzte. Er sah sich selbst und Esanna einen hellen, lichtüberfluteten Korridor aus Bruchstücken der realen Welt entlangschweben, sah sich durch Städte, Häuser und Arenen gleiten, die wie alles Übrige auf dieser Welt fest verwoben waren mit einem ganz und gar unbegreiflichen Ganzen, vorbei an grotesk veränderten, farbig schillernden Menschengesichtern, die auf eine ganz neue, unfassbare Weise mit ihrer Umgebung verschmolzen, dann hinaustrieben, vorbei an Wäldern, Seen, Gebirgen, die gleich kostbaren Edelsteinen eingefügt zu sein schienen in das mysteriöse Gebilde, in den Kosmos und in das Gefüge der ganzen Welt. Er sah sie einschweben in ein Tal, das vollkommen durchzogen war von dem unbegreiflichen Etwas, das ausgefüllt war von ihm wie vielleicht sonst nichts auf Enwor und doch mehr war als ein Knotenpunkt oder eine zufällige Ansammlung, sondern das, was die Digger wohl als ihr Ziel betrachtet hätten, als Zentrum ihrer Suche, als das, was sie ihr Leben lang angelockt hatte und nun doch verderben würde.
Und dann, plötzlich und von einem Moment auf den anderen, veränderte sich alles und die Gesetze der Zeit selbst schienen aufgehoben. Es war wie der Durchbruch zu einer anderen Welt, wie ein Verschlingen der Wirklichkeit. Er war da, mitten in der Nacht, gefangen in einem grauenvollen Traum, und dann, von einem Zeitabschnitt auf den anderen, wich die erstickende Schwärze einem schattenerfüllten Halbdunkel, in dem er im ersten Moment nicht richtig sehen konnte, nichts wirklich erkannte, bis sich schließlich seine Umgebung schemenhaft aus dem Nichts herausschälte, Konturen bildend -, die er erst halbwegs erriet und dann mit so glasklarer Deutlichkeit wahrnahm, dass es fast schmerzte...
Übergangslos saß er auf kaltem, hartem Felsboden, im flackernden Licht eines mit wenigen trockenen Holzscheiten entfachten Feuers, das ihn gleichzeitig wärmte und auf eine merkwürdige, peinigende Art auszutrocknen schien. Es war schon spät und der Sturm, der vor der Höhle tobte, hatte ihren Aufstieg zur Qual werden lassen und er wusste plötzlich, dass es wieder die Vergangenheit war, die ihn in einer unglaublich lebendigen Vision eingeholt hatte... ... dass ihn gleichzeitig ein tranceähnlicher Schlaf gefangen hielt und er doch hier war, an diesem gestrigen, längst vergangenen Abend, der wie aus den Tiefen der Zeit für einen endlosen Augenblick zurückgekehrt war...
»Es wäre besser, du würdest etwas schlafen«, sagte er gerade zu Esanna, in diesem Gestern, das plötzlich zur Gegenwart geworden war.
Das Mädchen schüttelte beinahe erschrocken den Kopf. »Nein«, sagte es hastig. »Ich will nicht schlafen. Nicht jetzt. Nicht... nachdem das alles geschehen ist.«
Erst jetzt, als es ihm auf Armeslänge gegenübersaß, sah er, wie erschöpft und mitgenommen das Mädchen aussah. Aber das war kein Wunder; nicht, nachdem die Quorrl ihr Dorf überrannt hatten und sie vielleicht die letzte Überlebende ihrer Familie war ... und er wusste jetzt mit geradezu übernatürlicher Klarheit, dass er diesen, den gestrigen Abend nach dem erschwerten Aufstieg, nun tatsächlich noch einmal erlebte, ohne seinen Ablauf ändern zu können.
»Warum habt Ihr mich entführt, Satai?«, fragte sie mit erstickter Stimme. Ihre Worte überraschten ihn nicht sehr und er hatte auch nicht vor auf die Beschuldigung darin einzugehen. Er musste endlich herausbekommen, was hier eigentlich los war und wieso er in diese unsägliche Auseinandersetzung zwischen Quorrl und Digger mit hineingezogen worden war.
»Ich habe dich nicht entführt, sondern gerettet«, stellte er fest. »Und jetzt will ich endlich wissen, warum die Quorrl euch angegriffen haben.«
Einen endlosen Herzschlag lang trafen sich ihre Blicke und zum wiederholten Male wurde sich Skar bewusst, wie sehr ihn Esanna in ihrer herausfordernden, temperamentvollen Art an Kiina erinnerte, an diese Kindfrau, die sein eigen Fleisch und Blut war und ihm trotz der Abenteuer, die sie zusammen erlebt hatten, merkwürdig fremd geblieben war - wie konnte er dann erwarten, dass das Digger-Mädchen ihn verstand?