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Er hatte sich zu schnell aufgesetzt. Die ungewohnte Helligkeit schmerzte in seinen Augen, und das Echo einer Stimme die ihn aus seinem Traum heraus ins Wachsein verfolgt hatte, klang noch in seinen Ohren nach. Er konnte sich nicht erinnern, was sie gesagt hatte, aber es war die gleiche Stimme, die er schon in der Nacht gehört hatte. Die Stimme eines Gottes, die jede Faser seines Körpers durchdrang und gegen die es keinen Widerspruch gab.

Hastig schloss er die Augen, stützte sich mit den Handflächen am Boden auf und wartete, bis sich das Schwindelgefühl legte. Erst dann wagte er es, die Lider wieder zu heben, immer noch mit klopfendem Herzen und darauf gefasst, ja, für einen kurzen Moment sogar davon überzeugt, die Ungeheuer aus seinem Traum zu gewahren, die die Grenzen zur Wirklichkeit überschritten hatten: etwas Schwarzes, Chitinglänzendes, Hartes, mit dünnen Spinngliedern und starrenden, großen Augen, in denen das Wissen um alle Geheimnisse schlummerte, die ihm noch verborgen waren; und die er auch gar nicht kennen wollte. Aber da war nichts. Die Sternenbestie war nicht da.

Unendlich vorsichtig wandte er den Kopf und sah sich um. Der Traum war vorüber und die Sonne stand als glühender, orangefarbener Ball bereits einen Fingerbreit über dem Horizont im Osten, über einer dunkelblauen, geraden Linie, die ihr Spiegelbild verzerrt und silberdurchwoben zurückwarf. Im ersten Moment glaubte er aufs offene Meer hinauszublicken, doch dann wurde ihm klar, dass die Schatten dafür zu hart und die Spiegelungen zu matt waren. Es war hitzeflimmernde Luft, die über dem Land im Osten kochte und so Trugbilder und Visionen entstehen ließ. Der Tag war angebrochen und es war bereits jetzt sehr heiß. Er musste sehr lange hier gelegen und geschlafen haben.

Der Gedanke erschreckte ihn. Er war vollkommen hilflos gewesen; schutz- und wehrlos jedem Raubtier oder jedem Feind ausgeliefert, der sich angeschlichen hätte. Eine weitere Erinnerung, die plötzlich da war: Er wusste nicht, wer sie waren und warum es sie gab, aber er wusste, dass er Feinde hatte. Gefährliche Feinde.

Behutsam setzte er sich weiter auf, rieb sich in einer Bewegung, der er sich nicht einmal bewusst war, Schmutz und Sand von den Schultern und aus dem Gesicht und setzte unterdessen seine Musterung der Umgebung fort: Er war allein und er hatte sich in mehr als einer Beziehung getäuscht. Was er in der Nacht für einen Strand gehalten hatte, das war das Ufer eines großen Sees, dessen Oberfläche noch immer in schäumender weißer Gischt kochte, obwohl der Sturm endgültig erloschen und die Luft fast unbewegt war. Das dröhnende Vibrieren, das er immer noch hörte und spürte, war die Stimme eines gigantischen Wasserfalles, der zwei oder vielleicht auch drei oder noch mehr Meilen entfernt aus einer fast absurden Höhe herabstürzte: hunderte von Manneslängen, wie es ihm vorkam.

Er beschattete die Augen mit der Hand, blinzelte zu der Klippe hinauf und glaubte bizarre, dunkle Umrisse gegen den Himmel zu erkennen, fast zu regelmäßig, um von der Hand der Natur erschaffen worden zu sein, aber auch zu abstrakt, als dass sie das Werk von Menschen sein konnten. Vielleicht Ruinen. Vielleicht die Burg des zornigen Gottes, der ihn aus seinem Leben gerissen und an dieses Ufer geschleudert hatte.

Er war dort oben gestorben.

Der Gedanke stand ganz klar und jenseits jedes Zweifels hinter seiner Stirn und er dachte ihn vollkommen ohne Schrecken oder gar Angst. Wie auch? Er wusste so wenig über das Leben, wie konnte ihn da der Tod erschrecken? Es hatte hier geendet. Und hier begann es.

Er versuchte eine Weile mehr Einzelheiten zu erkennen, denn er spürte, dass die Schatten da oben wichtig waren, gab es aber schließlich auf. Die Erinnerungen würden zurückkommen, aber sie ließen sich nicht herbeizwingen. Obwohl die Sonne gerade erst aufgegangen war, war ihr Licht bereits sengend und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er blinzelte ein paarmal, drehte sich wieder in die entgegengesetzte Richtung und sah auf das Ufer hinab. Das Ufer, das aus in zähem Lehm eingebetteten Felsen bestand, hätte jede Spur getreulich bewahrt, doch die einzigen Fußabdrücke, die er sah, waren seine eigenen.

Seltsam. Er hatte die Stimme ganz deutlich gehört. Aber genauso deutlich war auch, dass niemand ihm auch nur nahe gekommen war, um mit ihm zu reden.

Niemand zumindest, der Spuren hinterließ.

Vielleicht war die Stimme doch nur Teil seines Traumes gewesen, so wie seine Angst und die spinnengliedrige, dunkle Kreatur. Er erinnerte sich nicht wirklich daran, ebenso wenig wie an das, was diesem Bild vorangegangen war. Da waren verschwommene Eindrücke, nebelhaft und nicht ganz real - sein Kampf gegen das Wasser, der Weg durch die Brandung, die Klippen. Aber wie war er ins Wasser gekommen? Hatte er Schiffbruch erlitten oder war er durch eine Ungeschicklichkeit ins Wasser gefallen oder ... Langsam. Beantworte eine Frage nach der anderen und versuche nicht Probleme zu lösen, bevor du sie überhaupt erkennst.

Das war nicht mehr die unheimliche Stimme aus seinem Traum. Er erinnerte sich noch immer nicht genau an das, was sie gesagt hatte, glaubte aber zu spüren, dass es eine Art Warnung gewesen war. Es war seine eigene Stimme; ein Teil von ihm, der logischer und sachlicher dachte, als er erwartet hatte.

Und so ganz nebenbei Recht hatte.

Er sollte versuchen sich zu erinnern, wer er war, bevor er darüber nachdachte, wie er hierher kam und wo dieses hier überhaupt war.

Ninga. Der Sturz von Ninga. So nannten die Menschen diesen gigantischen Wasserfall. Ein weiterer Erinnerungsfetzen, der plötzlich da war. Ihm folgte kein weiterer und er versuchte auch nicht noch einmal sie mit Gewalt herbeizuzwingen. Seine Vergangenheit war in eine Million Scherben zersprungen und vielleicht hatte es einen Sinn, dass er die einzelnen Stücke nur nacheinander fand.

Er schloss wieder die Augen, stützte das Kinn auf die angezogenen Knie und atmete tief und sehr bewusst ein und wieder aus. Die Luft, die vom Wasser heraufstieg, schmeckte bitter, aber sie war auch sehr kalt, und nachdem er seinen Körper einmal gezwungen hatte sie zu inhalieren, spürte er, wie die Kälte das Durcheinander hinter seiner Stirn zu lichten begann. Was sich einstellte, war auch jetzt nur Leere, kein Wissen, aber er war nicht enttäuscht. Seine Erinnerungen kehrten zurück. Langsam, aber sie kehrten zurück.

Er wandte wieder den Kopf und sah zum Wasserfall hin, der ihm nun noch größer und Furcht einflößender erschien als zuvor.

Langsam richtete er sich auf. Er begann zumindest zu ahnen, was mit ihm geschehen war. Die Erklärung war ebenso simpel wie beruhigend: Er hatte sein Gedächtnis verloren und damit seine Vergangenheit und auch alles, was er einmal gewesen war. Aber immerhin war er am Leben und er war nicht so schwer verletzt, dass er sich nicht bewegen konnte oder auch nur in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war.

Er drehte sich einmal im Kreis, überzeugte sich erneut - und diesmal sehr viel gründlicher - davon, dass das Ufer außer seinen eigenen auch wirklich keine Spuren aufwies, und tat schließlich das, was er eigentlich als Erstes nach seinem Erwachen hätte tun sollen: Er unterzog seinen Körper einer gründlichen Inspektion.

Seine Haut war überall zerschunden. Er war mit blauen Flecken und Quetschungen übersät, hatte Schürfwunden an Armen und Beinen davongetragen und außerdem war er nackt. Das Wasser musste ihm wohl die Kleider vom Leib gerissen haben.

Vorsichtig, mit spitzen Fingern, betastete er die größeren Verletzungen. Es tat weh, aber mehr auch nicht. Ihm war nichts Ernsthaftes zugestoßen. Keine Brüche oder Verstauchungen, die ihn in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt hätten. Er hatte Glück gehabt. Die Schrammen und kleinen Schnitte würden schon in wenigen Tagen verschwunden sein und auch die größeren Verletzungen bald verheilen. Bei allem war nichts, worüber er sich Sorgen machen musste.