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Und vielleicht war es ja auch gar nicht so wichtig. Sollte Esanna wirklich mit einer schnellen Bewegung nach dem glühend heißen Messer greifen, würde sie eine unliebsame Überraschung erleben: Außer ein paar Brandblasen würde ihr das nichts einbringen. Skar blinzelte ein letztes Mal in die gleißende Helligkeit des Feuers und sah dann zu dem Mädchen hinauf. Ihre Blicke begegneten sich und schienen ein stummes Duell auszufechten; in Esanna Augen funkelte so viel Hass und Wut, dass es Skar fast erschreckte. Wenn sie nur im Entferntesten das Gefühl gehabt hätte ihn auf die eine oder andere Weise überrumpeln zu können, das begriff er in diesem Moment, dann hätte sie es getan.

»Ich werde jetzt einfach gehen«, sagte Esanna mit der Entschlossenheit eines kleinen Kindes, das seinen Kopf durchsetzen will. »Und auch Ihr werdet mich nicht aufhalten, Satai.«

Skar sah sie einen Augenblick vollkommen überrascht an, bis er begriff, dass sie es durchaus ernst meinte. »Du täuschst dich, wenn du glaubst, ich wollte dir irgendwelche Steine in den Weg legen.«

Esanna setzte zu einer wütenden Entgegnung an, verschluckte sich aber dann beinahe an den Worten, die ihr schon auf der Zunge lagen, als sie die Bedeutung seiner Worte begriff und trotzig fragte: »Und was soll das heißen?«

»Wenn du gehen willst, dann geh«, sagte Skar ruhig und sich durchaus bewusst, dass sie andernfalls nicht Ruhe geben würde, bis er sie nicht gefesselt und geknebelt in eine Ecke der Höhle warf - oder bis sie einsah, dass jeder Fluchtversuch an den Unbilden der Natur scheitern würde. »Ich gebe dir sogar noch einen Rat auf den Weg: Such dir ganz schnell eine neue Unterkunft, eine Höhle oder zumindest einen tiefen Felsspalt, und sieh zu, dass du genug Holz findest, um dir ein Feuer machen zu können. Ansonsten wirst du bei dieser Witterung die Nacht wohl kaum überleben.« Esanna zögerte. »Heißt das, du lässt mich wirklich frei und ich kann machen, was ich will?«, fragte sie misstrauisch. »Auch zurückgehen in mein Dorf?«

»Natürlich«, nickte Skar. »Ich werde dich nicht daran hindern.« Aber vielleicht die Quorrl, fügte er in Gedanken hinzu.

In Esannas Augen glitzerte kalte Entschlossenheit. Sie war wohl noch zu jung, den Ernst seiner Warnung zu begreifen und ihn gegen den Drang abzuwägen, ohne ihn die Nacht zu verbringen. Alles was sie sah, war die Chance sich von ihm zu befreien, ohne zu begreifen, dass sie ohne den Satai kaum mehr als ein paar Stunden in der stürmischen, menschenfeindlichen und nebelverhangenen Nacht überleben würde. Aber trotzdem - sie war nicht die Erste und würde nicht die Letzte sein, die für einen Hauch trügerischer Freiheit bereit war ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Irgendwie neidete Skar ihr diese jugendliche Naivität. »Also dann«, sagte sie und unterstrich ihre Worte mit einer kurzen, entschlossenen Geste und dann schien sie ein kurzes Flackern zu durchzucken, sich ihre Gestalt aufzulösen und genauso ihr Gewand und die vorgestreckten Hände, während der Rest ihres Körpers noch in der letzten Bewegung erstarrt war und in Feuerwirbeln auseinander jagte, zu schwirrenden grellweißen Funken wurde ...

Zurück in der Gegenwart war er sich trotzdem im ersten Moment nicht sicher, ob er nun wirklich erwacht war oder ob er nur eine besonders niederträchtige Fortsetzung des Alptraums erlebte. Sein ganzer Körper war ein einziger, brennender Schmerz und er hatte ein fürchterliches Brennen in seiner Kehle; es war ein Gefühl, als hätte er tütenweise Sand geschluckt und danach tagelang keine Quelle, keinen Bach, kein Rinnsal gefunden, um seinen entsetzlichen Durst zu stillen. Das erstickende Gefühl war so stark, dass er noch nicht einmal frei husten konnte, geschweige denn schlucken. Das Schlimmste aber: Er war auf eine widernatürliche Weise in zwei Wirklichkeiten hinein erwacht. Auf der einen Seite lag er in der alles verschlingenden Kälte inmitten der stürmischen Nacht mit dem leisen Knistern und Prasseln des erlöschenden Feuers neben sich und auf der anderen Seite war es der Abend zuvor, an dem er eingenickt war, kaum dass Esanna die Höhle verlassen hatte. Während ihn der brennende Durst fast um den Verstand brachte, fühlte er sich zerrissen, als ob zwei Personen in ihm wären: Der gestern Abend Schutz suchend in diese Höhle eingekehrte Skar und der von einem Alptraum gebeutelte Skar, der wenige Stunden später in einen alles verschlingenden Wahnsinn hinein erwachte.

Es dauerte nicht lange, bis ein Geräusch am Höhleneingang davon kündete, dass jemand von draußen hereintappte, jemand, der so müde, erschöpft und wahrscheinlich verfroren war, dass er kaum noch gerade gehen konnte, sondern eher darum kämpfen musste, noch einen Fuß vor den anderen zu setzen. Skar brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, wer das war, der da triefend und erschöpft von einem vermeintlichen Ausflug in die Freiheit zurückkehrte.

»Schon gut«, sagte Esanna, als sie zitternd und nass wie eine Flussratte, die stundenlang einen Kanal durchschwommen hatte, ans Feuer trat, »du brauchst nichts zu sagen.«

Skar stemmte sich auf den Ellbogen, um zu erkennen, welche der Esannas ihn angesprochen hatte. Die Feuerstelle schien währenddessen zu eigenem, gespenstischem Leben erwacht zu sein: Sie sprang zwischen fast erloschen und munter prasselnd ständig hin und her. Auch Esanna war von der Veränderung betroffen; durch ihre Gestalt ging ein ständiges Flackern wie von irisierendem Licht und ihre Konturen verschwammen im raschen Wechsel, so als könnten sich seine Augen nicht entscheiden, wie sie sie sehen wollten. Doch in beiden Fällen stand sie vor Kälte geschüttelt vor ihm und ihre Kleidung war so voller Feuchtigkeit, dass sich dunkle Flecken auf ihr abzeichneten.

»Ja«, krächzte er, benommen und immer noch gefangen in dem Traum (welchem Traum? Zu welcher Zeit?) und er wunderte sich, dass seine zerstörte Kehle überhaupt einen Laut hervorgebracht hatte.

»Es ist nichts dort draußen«, stieß Esanna wütend hervor und deutete hinter sich auf den Höhleneingang, »nichts, außer einem Schneesturm und Dunkelheit und Nebel - warum musstest du mich auch ausgerechnet in diese verdammte Gegend mitschleppen?«

»Weil...«, sagte Skar und versuchte sich verzweifelt an das zu erinnern, was er hatte sagen wollen. Er kämpfte gegen das Gefühl an, dass die Wirklichkeit abrutschte, dass sie sich wie ein Boot in stürmischer See überschlug und ihn mitriss in die alles verschlingende Unendlichkeit. Esannas Frage war berechtigt, das begriff er, doch gleichzeitig schien es ihm unmöglich, sie zu beantworten - vielleicht, weil es keine Antwort gab oder weil die Antwort zu schrecklich war, um sie sich bewusst zu machen, oder weil jemand - etwas - ihn daran zu hindern suchte, den Gedanken weiterzuverfolgen...

»Weil was?«, fragte Esanna.

Die Antwort, die Antwort... Sie war von zentraler, fast lebenswichtiger Bedeutung. Sicherlich, er hatte sich schon oft in den verrücktesten Situationen befunden und nicht gewusst, ob er überhaupt die geringste Chance hatte, den nächsten Tag unversehrt oder zumindest lebend zu erreichen - aber das hier war etwas ganz anderes, etwas viel Bedrohlicheres, auch wenn es nur um die Beantwortung einer an sich simplen Frage ging.

Und dann, von einer Sekunde auf die andere, ging die Welt um ihn abermals zu Bruch, tanzten bunt schillernde Farbkreise um ihn herum und verschlangen alles, was er vorher noch mit durchbrochener Klarheit hatte sehen können, rissen das gerade noch Sichtbare in einen gigantischen Strudel mit sich hinab, zerstörerisch, verschlingend und vernichtend... Sand füllte seinen Mund, knirschte zwischen seinen Zähnen, kroch brennend und heiß unter seine Kleidung und scheuerte auf seiner bloßen Haut; ein grauenhaftes Gefühl, als würde er unter Sandmassen verschüttet, die ihn zuerst nur ausgedörrt hatten, um ihn jetzt gänzlich zu ersticken, als wollten sie ihn lebendig unter sich begraben, ihn, den ja schon seit einer kleinen Ewigkeit Toten und Verdammten, ihn, der keine Lebensberechtigung mehr hatte außer Es zu dienen, seinen Auftrag zu erfüllen, der Welt den Willen des Unbegreiflichen aufzuzwingen ...