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Im nächsten Augenblick war die Vision schon wieder verschwunden, um nur ein paar Sekunden später flackernd wieder zum Leben zu erwachen. Was ging hier vor? War es eine Warnung aus den Tiefen seiner Seele, ein Hinweis vor einem künftigen Angriff Esannas, den sie schon plante, nachdem ihr Versuch, in der tobenden Nacht einen anderen Unterschlupf zu finden, an den Naturgewalten gescheitert war? Vielleicht - und doch ... es war so, als würde er sie zwischendurch tatsächlich in einer ganz ähnlichen, aber grundverschiedenen Pose sehen, als stünden zwei Esannas vor ihm, die eine fröstelnd, aber harmlos, am Feuer und die andere mit einer tödlichen Waffe in der Hand, die sie ihm, dem gerade Erwachten, ins Herz stoßen wollte.

»Ich frage mich, warum du dir ausgerechnet diese Gegend hier ausgesucht hast, Herr«, sagte Esanna. In ihren Augen flackerte etwas, das er nicht zu deuten vermochte. »Ihr hättet vor den Quorrl doch auch ein anderes Versteck finden können als ausgerechnet hier.«

Ganz nebenbei fiel Skar auf, dass sie zwischen dem vertrauten du und dem ehrfurchtsvollen, aber wohl mehr spöttisch oder sogar abfällig gemeinten Ihr hin und her schwankte - etwas, das aber ganz im Hier und Jetzt stattfand und nichts zu tun hatte mit der mittlerweile verblassten Vision der mörderischen Esanna. Trotzdem - wenn er die Warnung ernst nahm, sollte er sofort das mittlerweile glühende Messer aus den Flammen nehmen und, nachdem es abgekühlt war, in seinem Waffengurt verstauen.

»Ich will jetzt endlich wissen, was du von mir willst!«

Esanna wirbelte mit einer erschreckend schnellen Bewegung zu ihm herum. »Ich bin doch nur Ballast für Euch!« Skar schwieg noch immer. Es gab auch nichts, was er hätte sagen können, nichts, was irgendeiner Verteidigung noch Sinn gegeben hätte. Das zwischen ihm und Esanna bestehende Band war nichts, was sich in Worte kleiden ließ und was auch immer sie zusammengeführt hatte: Mit ihm selbst, mit einer bewussten Entscheidung hatte das wohl am wenigsten zu tun.

»Erzähl mir mehr über die Digger«, sagte er nach einer weiteren Minute des Schweigens, während in ihm gleichzeitig ein erbitterter Kampf tobte und sich Gedanken glasklar aneinander reihten, mit messerscharfer Logik, als ob sie ihn zerschneiden wollten: Dunkler Bruder, Sternenbestie Daij-Djan, Vernichtung der alten Ordnung, Kampf ums Überleben, Tod, Tod, Tod und Tasten und Suchen in der alles verschlingenden Ewigkeit des Immertoten, aus dem Nichts und Niemand zurückkehrte ins Reich des Lebens ... Und doch war er hier, Skar, dem die Geschichtsschreibung der Welt das Elfte Buch widmete, den die Prophezeiung dazu auserkoren hatte, Enwor zu retten, nachdem Narren auf allen Seiten zur umfassenden Vernichtung aufgerufen hatten ... ein Skar, der tot war, gestorben vor unendlich langer Zeit... Und der er deswegen nicht selber sein konnte!

Wer aber war er dann?

Skar versuchte den Gedanken weiterzuverfolgen, zu ergründen, was es mit dem Geheimnis seiner Existenz auf sich hatte. »Ich will wissen, warum dein Volk ausgerechnet hier lebt«, hörte er sich jedoch stattdessen sagen, als bestünde er aus zwei Wesen, als wäre der eine vollkommen auf das Gespräch mit dem Mädchen konzentriert und als würde der andere voller Panik und Entsetzen versuchen zu begreifen, was mit ihm geschah und wer oder was er eigentlich wirklich war.

»Schon wieder ein Vorwurf, Satai?«, fragte Esanna hart. »Erst verratet Ihr uns an diese Ungeheuer, dann schlagt Ihr Euch im Kampf auf ihre Seite und schließlich entführt Ihr mich - und nun tut Ihr so als hätten wir kein Recht dem Ruf zu folgen und das zu tun, was getan werden muss!«

»Dem Ruf folgen?«, wiederholte Skar verwirrt. Diese Formulierung schlug in ihm eine Saite an, weckte eine Erinnerung, die wie eine alte Wunde aufplatzte. »Was genau meinst du damit?«

»Als ob Ihr das nicht genau wüsstet«, schnaubte Esanna. »Wir sind nun mal Digger und Digger folgen ihrem Ruf so wie ... wie ... ach, das ist ja auch egal.«

»So wie Quorrl dem Ruf des Blutes folgen und Digger auslöschen, sobald sie ihrer habhaft werden, und so wie andererseits Satai dem Ruf folgen, um gegen die Quorrl zu ziehen?«, half Skar ihr aus.

»Ja, genau«, funkelte ihn Esanna an. »Das wisst Ihr ja wohl besser als jeder andere, nicht wahr? Ich habe nicht gewusst, dass sich Satai auf einen Blutpakt mit den Quorrl einlassen, obwohl es mich kein bisschen wundert, so wie sich deinesgleichen in letzter Zeit verhält, vielleicht mal abgesehen von Marna, dem Satai mit der Wolfsmaske, und seinen Gefolgsleuten.«

Skar schwieg einen Moment. Seine Verwirrung wuchs, je länger das Gespräch anhielt. Doch gleichzeitig wurde das von seinen (seinen?) Augen vermittelte Bild der Höhle und der vor ihm stehenden Esanna auch schärfer, als ob sich ein bislang vorhandener Schleier auflöste und auch das Pfeifen und Heulen des Sturms erschien ihm mit einem Mal viel deutlicher: Stärker als je zuvor schien es bemüht zu sein, das fröhlich prasselnde Feuer zu übertönen. Immerhin ließ zumindest das beklemmende Gefühl nach, das die Visionen mit sich gebracht hatten, und er konnte sich nur noch verschwommen an die Trugbilder erinnern, an die tanzenden Schatten, die ihn gerade noch genarrt hatten - falls da wirklich überhaupt etwas gewesen war - und an Esannas Umarmung und an das kratzende, erstickende Gefühl in seiner Kehle und die brennende Frage nach Ursprung und Sinn seiner Existenz.

»Es ist nicht ganz einfach, dir zu folgen«, sagte er schließlich, während er mit einem Kopfschütteln den Schrecken der letzten Minuten endgültig von sich zu schütteln versuchte. »Wie du weißt, komme ich von weit her und der Ort, von dem ich komme - na, man könnte fast sagen, die Zeit sei dort stehen geblieben.«

»Ich glaube dir kein Wort«, sagte Esanna verächtlich. »Du bist doch nicht viel mehr als ein Strauchdieb in der Maske des ehrbaren Satais.«

»Du hast es erkannt«, sagte Skar und mit einem Mal fielen alle Fragen, alles Drängen von ihm ab und etwas Altbekanntes gewann in ihm die Vorherrschaft: blanker, menschenverachtender Zynismus: »Ich schleiche mich nachts in die Hütten armer Leute, schlitze die Männer auf, schände die Frauen und verspeise die kleinen Kinder zum Frühstück.«

Er zuckte zusammen, als er merkte, was für eine Geschmacklosigkeit ihm da über die Lippen gekommen war. Eine vollkommen überflüssige Bemerkung angesichts des Gemetzels, das gerade - und doch, wie es ihm schien, vor unendlich langer Zeit - in Esannas Heimatdorf stattgefunden hatte und bei dem wahrscheinlich neben ihrem Vater auch andere enge Verwandte von ihr den Tod gefunden hatten.

»Verzeih«, sagte er mitten in Esannas entsetzten Gesichtsausdruck hinein, »ich glaube, wir sind beide etwas mit der Situation überfordert. Für den Anfang würde es mir schon genügen, wenn du dich entscheiden könntest, wie du mich ansprechen willst: Ob du es vielleicht über dich bringen kannst, beim du oder beim Ihr zu bleiben, ganz wie es dir gefällt.«

»Wie es mir gefällt?«, wunderte sich Esanna. »Was soll dieser Schwachsinn. Du - also gut, Ihr - habt mich doch nicht ohne Grund hierher mitgeschleppt.«

»Ich verstehe nicht ganz«, behauptete Skar, obwohl er natürlich nur zu gut verstand. Alles, was er mit dieser Bemerkung erreichen wollte, war Zeit gewinnen: Zeit, um sich darüber klar zu werden, was ihn dazu getrieben hatte, ausgerechnet dieses Mädchen zu retten, und Zeit, um begreifen zu lernen, was es mit ihm selbst auf sich hatte.

»Was ist denn daran zu verstehen?«, fragte Esanna mit der ganzen Empörung der Jugend, die sie trotz des frisch erlebten Grauens kraftvoll gegen ihr Schicksal ankämpfen ließ. »Du hast dich bei uns als Gast eingeschlichen, uns schmählich verraten...«