»Das hatten wir doch schon alles«, sagte Skar. »Fangen wir lieber bei den Dingen an, die mir noch nicht bekannt sind: so trivial sie dir auch erscheinen mögen.«
»Und das wäre?«, fragte Esanna im gereizten Tonfall eines Kindes, dessen Mutter ihm gerade zu erklären versucht, warum es besser ist, nicht nachts allein durch einen Wald zu gehen.
»Beginnen wir mit den Diggern«, sagte Skar leise, während er die Augen schloß, um die verschiedenen, ihn quälenden Bilder in den Hintergrund zu schieben. »Was genau sucht ihr so nah an der Grenze zum Quorrl-Gebiet?«
»Was für eine Frage«, sagte Esanna, immer noch erschüttert. »Jedermann weiß doch, wer wir sind und was wir tun. Ganz Enwor kennt uns! Das kann doch nicht sein ... es sei denn«, ihre Augen verdüsterten sich, als hätte sie einen furchtbaren Verdacht, »du kommst von jenseits des Eises.« Skar schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich bin ein Bewohner Enwors wie du auch. Aber... ich komme aus einer sehr abgelegenen Gegend ...«
»Aus welcher Gegend?«, fragte Esanna misstrauisch.
»Das tut nichts zur Sache«, wehrte Skar rasch ab. »Wir hatten schon sehr lange keine Besucher, waren vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Nimm einfach an, dass bei uns die Zeit stehen geblieben ist.«
»Dann muss sie vor sehr, sehr langer Zeit stehen geblieben sein«, sagte Esanna und warf ihre langen, dunklen Haare zurück. »Seit nunmehr dreihundert langen Jahren suchen wir nach Kaol, und wenn wir zuerst auch nur wenige waren und verspottet wurden, so sind wir doch schon lange zu einer großen, mächtigen Bewegung geworden, die niemand auf Enwor noch zu ignorieren wagt!« Stolz schwang in ihrer Stimme mit und noch etwas anderes, so etwas wie religiöse Inbrunst. Aber nicht das war es, was Skar zusammenzucken ließ, sondern die Zeitangabe. »Dreihundert Jahre«, murmelte er fassungslos.
»Ja.« Esanna ließ sich in die Hocke nieder und wärmte ihre Hände am Feuer; fast schien es Skar, als würde sie gegen die Versuchung ankämpfen mit einem schnellen Griff ins Feuer das Messer wieder in ihren Besitz zu bringen. Doch selbst wenn es ihr gelänge: Die glühend heiße Waffe würde ihr zu nichts nutze sein, ganz im Gegenteil, sie würde sich nur damit die Hände versengen. »Es war der Tod des Großen Skar, der die Welt veränderte, der uns Kaol schenkte und erst damit die Veränderung zum Guten und Reinen bewirkte ...« Sie blinzelte leicht. »Aber ich nehme an, das weißt du alles«, fügte sie rasch hinzu.
»Rede ruhig weiter«, sagte Skar, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Was hat es mit diesem ... mit Skar auf sich? Welche Rolle spielt er für euch Digger?«
»Schon wieder so eine merkwürdige Frage«, seufzte Esanna. »Man könnte wirklich meinen, du wärst geradewegs aus der Tiefsee aufgestiegen. Vielleicht bist du ja gar kein Mensch, sondern ein Monster der Tiefe, das uns zur Prüfung geschickt wurde...« Es sollte wohl eine leicht dahingesagte Bemerkung sein, aber das Zittern in Esannas Stimme verriet, dass ihr nach allem anderen als nach Albernheiten zumute war.
Skar war noch immer wie vor den Kopf geschlagen. Der große Skar - ob er nun wollte oder nicht, er musste begreifen lernen, dass die Menschen damit ihn meinten - oder doch zumindest das Bild, das sie sich über die Jahrhunderte von ihm gemacht hatten. Mit der Wirklichkeit, mit ihm selbst hatte das wohl kaum etwas zu tun. Aber das hatte es in solchen Fällen ja wohl nie; wann immer die Menschen jemanden als ihr Idol vereinnahmten, drängten sie sein tatsächliches Leben und Wirken immer weiter in den Hintergrund zurück und ersetzten es durch ein Wunschbild, an dem sie so lange änderten und feilten, bis es ihren eigenen Vorstellungen gerecht wurde, gleichgültig, welche Absichten und Motive den ursprünglichen Menschen getrieben hatten und gleichgültig, ob ihn das große Kotzen überkommen würde beim Anblick dessen, was man ihm alles andichtete - wenn er es zu seinen Lebzeiten denn überhaupt noch mitbekam.
Dass jemand dreihundert Jahre nach seinem Tod auf die Welt zurückkehrte und erst dann sah, was man aus ihm gemacht hatte, war ja nicht gerade üblich. Dreihundert Jahre! Das war unglaublich. Bislang hatte es sich Skar immer noch irgendwie einzureden versucht, dass sein Tod vielleicht doch nicht so endgültig gewesen war, wie es ihm seine Erinnerung hatte vorgaukeln wollen, dass sein Gedächtnis trog, ihm vielleicht irgendwelche Lügengeschichten eingetrichtert worden waren, dass er vielleicht eine Weile im Koma gelegen hatte, ein paar Wochen, Monate oder vielleicht auch Jahre, dass er dann ohne Gedächtnis an Land gespült worden war, nur scheinbar wieder auferstanden, weil er auf irgendeine unbegreifliche Weise doch nicht wirklich tot, sondern nur scheintot gewesen war - doch jetzt, in diesem einen entsetzlichen Augenblick begriff er, dass das alles ein Trugschluss war, dass etwas vollkommen Unbegreifliches mit ihm geschehen war. Natürlich konnte es sein, dass ihn Esanna belogen hatte - wissentlich oder unwissentlich. Aber er schob diese Möglichkeit ohne zu Zögern beiseite. Er spürte einfach, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, er spürte, dass tatsächlich Jahrhunderte zwischen seinem früheren Leben und seiner jetzigen Existenz lagen.
»Wenn ihr Kaol sucht«, sagte Skar, »dann wird es vielleicht doch eine leichtere Möglichkeit geben, als es ausgerechnet den Quorrl unterm Hintern wegzustehlen.«
»Sicherlich gibt es leichtere Möglichkeiten«, sagte Esanna ärgerlich. »Doch unser Clan musste neue Schürfgründe suchen. Alles, was einfach auszubeuten ist, ist in der Kontrolle des Clans der Ältesten.« In ihren Augen blitzte es wütend auf. »Die Ältesten - sie haben uns gezwungen bis zum Äußersten zu gehen. Wir mussten einfach hierher kommen, denn hier gibt es jede Menge Kaol und niemanden, der ein Recht darauf beansprucht.«
»Die Quorrl sehen das vielleicht ein bisschen anders.«
»Die Quorrl! Das sind doch bloß Tiere. Die wissen doch gar nicht, auf welchem Schatz sie sitzen. Alles, was wir machen müssen, ist sie ein Stück weit zurückzudrängen, um unseren Anspruch auf die hiesigen Kaol-Vorkommen zu sichern.«
»Und dann kommen nach euch andere Digger, die wieder ein Stück weiter ins Quorrl-Gebiet ziehen müssen, um Rechte an Kaol zu erwerben und immer so weiter fort.« Skar nickte ärgerlich. »Das ist ein altbekanntes Muster. Und am Ende stehen Vernichtung, Hass und womöglich die Ausrottung eines ganzen Volkes ...«
»Die Quorrl sind Mörder«, unterbrach ihn Esanna mit überkippender Stimme. »Sie haben unser ganzes Dorf ausgelöscht.«
»Das mag sein«, sagte Skar hart. »Die Quorrl haben gemordet. Das haben sie schon immer getan. Zumindest einige von ihnen. Aber bei den Menschen ist das doch kein bisschen anders!«
»Was soll das heißen?«
»Das heißt, dass unser beider Anliegen sein sollte dem Kampf ein Ende zu setzen ... Also setzen wir dort an, wo er - zumindest zum guten Teil - seinen Ursprung nimmt.«
»Du willst also doch gegen die Quorrl in den Krieg ziehen?«
»Wenn du es so sehen willst«, sagte Skar, wobei er bewusst die Wahrheit strapazierte und seine nächsten Worte so wählte, dass Esanna ihn missverstehen musste. »Ich werde dem Ruf folgen und an Marnas Hof ziehen.«
Esanna starrte ihn vollkommen fassungslos an. »Das verstehe ich nicht«, bekannte sie. »Alles, was du bislang gesagt hast, alles, was du getan hast, weist dich als Freund dieser Ungeheuer aus, als Verräter der heiligen Sache ... Und jetzt willst du all das von dir weisen, so tun, als ob nichts gewesen sei?« Ihre Augen verengten sich. »Oder hast du vielleicht ganz andere Gründe zu Marna zu gehen? Bist du ein gedungener Mörder, der den Auftrag hat ihn umzubringen?«
»So ein Blödsinn«, sagte Skar. »Wenn das so wäre: Hätte ich nicht oben an der Klippe reichlich Gelegenheit dazu gehabt? Hätte ich mich nicht nur im Schutz eines Felsens auf die Lauer legen müssen, um ihn mit einem Pfeil vom Sattel zu holen. Nein«, er schüttelte entschieden den Kopf, »ich wünsche genauso wenig wie du den Tod Marnas. Alles, was ich will, ist ihn davon zu überzeugen, dass es einen anderen Weg gibt, als die Quorrl auszulöschen.«