»Du Biest hast mir fast die Finger abgebissen«, keuchte Skar. »Verdammt noch mal! Was willst du eigentlich damit erreichen? Dass ich dich umbringe?«
»Ich...«, stammelte Esanna, während sie sich ihre schmerzende Wange hielt und ihn hasserfüllt anstarrte. »Ja, bitte?«, fragte Skar. »Ich höre.«
Etwas veränderte sich in ihrem Blick; es war ein Flackern in ihm, das eine Sekunde zuvor noch nicht da gewesen war, ein Nichtbegreifen, wo vorher nur Hass und bitterste Ablehnung vorhanden gewesen waren.
So merkwürdig es auch war: Es war genau dieser Anblick, der Skar in die Wirklichkeit zurückbrachte und sowohl das überheblich-abgehobene Gefühl in ihm zerstäuben ließ als auch jegliche Form verzerrter Wahrnehmung. Von einem Moment auf den anderen war er sich wieder völlig bewusst, dass sie sich an einem der unwirtlichsten und auch wohl tödlichsten Flecken der Welt befanden, einem Ort, der im Grunde aus nichts anderem als menschenfeindlicher Natur bestand, an dem sie die Nacht nur überstanden hatten, weil sie diese Höhle gefunden hatten, dem vielleicht einzig sicheren Unterschlupf im Umkreis vieler Meilen. Aber was das Schlimmste, weil für ihn selbst Unbegreifliche, dabei war: Er hatte das Mädchen verschleppt, gegen ihren Willen hierher gebracht, ohne jegliche Spur von Feingefühl und ohne auch nur einen Hauch von Rücksicht darauf zu nehmen, dass kurz zuvor all ihre Angehörigen und Freunde niedergemacht worden waren.
Kein Wunder, dass sie nahe dran war, vollkommen durchzudrehen.
»Wenn du dich beruhigt hast, können wir wieder zum Feuer gehen«, sagte er deshalb fast behutsam. »Ich muss ein paar neue Scheite auflegen. Sonst frieren uns gleich die Gedärme weg.«
Sie ließ nicht erkennen, ob sie ihn verstanden hatte. Sie ließ überhaupt nichts anderes erkennen als Verwirrung und eine Art abgrundtiefes Entsetzen, das er überhaupt nicht zuordnen konnte - doch immerhin machte sie keine Anstalten, ihn erneut anzugreifen.
»Ich sagte, wir sollten zum Feuer zurückkehren«, wiederholte Skar, während er die kunstvoll verzierten Lederschnallen des Harnischs wieder schließen wollte.
»Nicht!«
»Bitte? Was nicht?« Als Esanna mit nichts weiter darauf antwortete als mit einem entsetzten Kopfschütteln - und er sich langsam Sorgen um ihren Geisteszustand zu machen begann -, fuhr er fort: »Gefällt dir der Platz am Feuer nicht, oder was ist los?«
»Zieh das nicht wieder an!«, sagte Esanna, als wäre er im Begriff etwas Entsetzliches zu tun.
»Entschuldige mal«, sagte Skar, »ich friere. Mal ganz abgesehen davon, was du mit meinen Fingern angestellt hast: Du hättest mich nicht auch noch halb auszuziehen brauchen.«
»Aber das Zeichen!« In Esannas Stimme mischte sich so etwas wie Panik und Ehrfurcht. »Du trägst das Zeichen!«
»Quatsch«, entgegnete Skar schroff. »Was für ein Zeichen? Es ist nichts mehr als das Gewand eines Toten, das ich trage.«
»Nicht doch.« Esanna schüttelte den Kopf. »Nicht deine Kleidung. Das Zeichen über deinem Herzen.«
Skar seufzte und sah an sich hinab. Tatsächlich. Eigentlich hätte es ihm schon früher auffallen müssen. Etwas leuchtend Schillerndes hatte sich in seine Brust eingegraben, etwas, dass seine ganze Umgebung mit einem milden, schwach golddurchwirkten roten Licht erfüllte. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein riesiger Diamant, der in tausend kunstvoll geschliffenen Facetten leuchtete, als würde er von geheimnisvollen Lichtquellen angestrahlt. Es war ein gleichzeitig so schöner wie bizarrer Anblick, dass Skar automatisch ein kalter Schauer über den Rücken jagte.
»Was ist das?«, keuchte er.
»Das Zeichen«, sagte Esanna leise. »Das Zeichen, das nur der tragen kann, den das Elfte Buch als den Retter bezeichnet - Skar.«
»Das Elfte Buch?«, fragte Skar verständnislos.
»Ja«, nickte Esanna, »das Elfte Buch, das erst dann fertig gestellt werden kann, wenn sich seine Prophezeiung erfüllt und Skar die Welt rettet vor der unsichtbaren Gefahr...« Skar hob vorsichtig die Hand und führte sie zu dem Gebilde, das in seine Brust eingewachsen zu sein schien. Seine Oberfläche fühlte sich glatt und gleichermaßen angenehm kühl und gut temperiert an, tatsächlich ähnlich wie ein Edelstein, aber auch anders - lebendig. Das Gebilde erschien ihm gleichermaßen vollkommen fremd wie auch vertraut, gar nicht so, als ob er es zum ersten Mal sähe. Gleichwohl - als er vor ein paar Tagen nackt dem Wasser unterhalb des Sturzes von Ninga entstiegen war, war es noch nicht an ihm gewesen. Oder war es ihm nur nicht aufgefallen?
»Was ist das für ein Ding?«, fragte er misstrauisch.
»Kein Ding.« Esanna schüttelte schnell den Kopf. »Es ist das Zeichen. Und haltet Ausschau nach ihm, auf dass ihr ihn erkennt, wenn er vor euch steht«, zitierte sie. »Denn sein ist die Macht, das Unmögliche zu vollbringen und die Welt vor der Vernichtung zu erretten wider die Verblendung, die sich wie ein dunkler Schatten über das Land legt.«
»Das steht im Elften Buch?«, fragte Skar irritiert. »Was verrät diese Schrift denn sonst noch so?«
Esanna zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Es ist der einzige Teil des Buches, der unter der Bevölkerung ganz Enwors verbreitet werden sollte. Natürlich zusammen mit der genauen Beschreibung des Zeichens und der Aufforderung, das Auftauchen des großen Skars kundzutun ...« Ein kurzer Schatten lief über ihr Gesicht, ein Hauch bitterer Enttäuschung und tiefen Zweifels.
»Aber das kann natürlich nicht sein«, fuhr sie fort und trat auf Skar zu, rasch, aber nicht ganz so schnell wie zuvor. Trotzdem wäre er fast automatisch einen Schritt zurückgewichen, wohl auch deshalb, weil er intuitiv wusste, was sie vorhatte. Ihre Hand kam fast zögernd nach oben und ihre Finger tasteten nach dem Zeichen, wie sie es bezeichnet hatte, oder nach dem Gebilde, wie Skar es für sich nannte.
»Es fühlt sich... merkwürdig an«, sagte sie stockend.
»So ... glatt. Und... gleichermaßen kühl und warm. Fast wie eine kühle Hand.«
Ihre Zungenspitze fuhr nervös über ihre Lippen. Skar konnte direkt sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Es vergingen endlose Sekunden, in denen sie noch mehrfach über das Gebilde fuhr, als wollte sie sich von seiner Echtheit überzeugen, und es waren Augenblicke, in denen die Gesetze der Zeit außer Kraft gesetzt zu sein schienen.
»Du bist Skar«, sagte Esanna schließlich und obwohl auch eine Frage in ihren Worten mitklang, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen, während sie gleichzeitig die Hand sinken ließ und einen Schritt zurückwich. »Du bist dieser... Mann, diese Legende, das Versprechen der Rettung?«
»Ich weiß nichts von einer Legende«, sagte Skar überrascht. »Und ich weiß auch nicht, wie dieses ... dieses Ding da in meine Brust gekommen ist.«
»Aber wer bist du dann?«, fragte Esanna. »Wenn du nicht Skar bist... verdammt noch mal, dann sag mir, wer du bist! ?!«
»Das ist eine gute Frage«, sagte er unsicher, »aber ich bin sicherlich nicht der Skar eurer Legenden. Es ist... es ist viel Zeit vergangen, seitdem ich das letzte Mal...« Lebte, hätte er fast den Satz beendet. Aber das verbiss er sich lieber; es hätte nicht nur makaber, sondern auch vollkommen unverständlich geklungen.
»Woher kommst du?«, fragte Esanna hartnäckig. »Dann sag mir wenigstens das!«
»Ich sagte doch schon, dass ich von weit her komme ...« Das war, wurde ihm in diesem Moment schmerzhaft bewusst, stark untertrieben. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass er wirklich noch vor wenigen Tagen tot gewesen sein sollte und mit einem Mal rastete wieder ein Stück Erinnerung ein: WIR WERDEN DIE WELT BEHERRSCHEN, SKAR. UND SPÄTER DAS UNIVERSUM. KOMM ZU MIR UND ICH MACHE DICH ZU EINEM GOTT.