Aber das hatte er nicht gewollt. Oh ja, er wollte es - alles in ihm schrie danach, den letzten Schritt zu tun und zum Herrn der Ewigkeit zu werden, er wollte die Macht über Welten, vielleicht Galaxien.
Es war wie eine getreuliche Fortsetzung des Alptraums, der in der Nacht begonnen hatte und gleichzeitig so intensiv wie die Halluzination, die ihm kurz nach seinem Erwachen die letzten Momente seines Lebens vorgegaukelt hatte, den schmählichen Verrat Dels und sein Ende durch die Hand Kiinas ICH WEISS, DASS DU DIE MACHT HAST ZU TUN, WAS DU SAGST. ABER WER BIST DU?
»Ich bin dein Schöpfer«, sagte Skar. »Und ich befehle dir: Geh. Geh und lass den Menschen und Quorrl ihre Welt, so wie sie dir die deine lassen werden.«
War das tatsächlich ein Erinnerungsfetzen oder eine Vision, eine Verhöhnung von jenseits der Wirklichkeit? Er wusste es nicht, aber etwas in ihm, ein gleichzeitig unbekannter und nur allzu bekannter Teil von ihm wisperte von purer Wahrheit, von der Verheißung nach Unsterblichkeit und unglaublicher Macht. Wie schon unzählige Male zuvor versuchte Skar den Gedanken weiterzuverfolgen, zu ergründen, wer diese geheimnisvolle Macht war, und ob vielleicht die Sternenbestie dahinter steckte, der Daij-Djan, aber bei diesem Versuch steigerte sich der latent vorhandene Druck in seinem Kopf und wurde zu einem unerträglich bohrenden Schmerz.
»Also, woher kommst du nun?«
Skar zuckte zusammen und bemerkte erst jetzt, dass er eine ganze Zeit lang mit leerem Gesicht vor sich hin gestarrt hatte. Geh und lass den Menschen und Quorrl ihre Welt, so wie sie dir die deine lassen werden. War es das, was in Gefahr geraten war, das Gleichgewicht zwischen der Sternenkreatur und den Menschen und Quorrl? Hatte eine Seite ihre Abmachung nicht eingehalten, war sein Verzicht auf die Macht und Unsterblichkeit letztlich sinnlos geblieben? In diesen wenigen Sekunden schien sich ihm die Vergangenheit wie ein offenes Buch vor ihm zu eröffnen, doch schon im nächsten Moment entglitt ihm der Zipfel des Wissens wieder und entließ ihn mit einem Gefühl unendlichen Verlustes.
Esanna besaß offensichtlich genug Gespür, um ihre Frage kein weiteres Mal zu stellen. Sie blickte ihn einfach wortlos an, aber etwas in ihrem Gesicht sagte ihm, dass sie sich nicht lange mit den wenigen Brocken zufrieden geben würde, die er ihr aufgetischt hatte. Ganz im Gegenteiclass="underline" Das Funkeln in ihren Augen verriet, dass ihr noch tausend Fragen auf der Seele brannten - und offensichtlich war nur eine davon die nach seiner wahren Existenz, die Frage, ob er wirklich der einzige und wahre Skar war.
»Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich in der Nähe des Sturzes von Ninga an Land gespült worden bin ...« - genau dort, wo ihn vor Jahrhunderten Kiina und sein Quorrl-Freund Titch der gläsernen Wand aus Wasser übergeben hatten, dieser letzten Ruhestätte in elementarer Gewalt...
»So, wie es die Legende sagt«, unterbrach ihn Esanna schaudernd.
Die Legende! - Das klang wie Hohn in Skars Ohren. Er hatte die Verlockung der Macht gespürt, damals, und er spürte sie auch heute noch. Irgendetwas war geschehen, in diesen letzten Tagen seines Lebens, das unter Dels Schwert sein Ende gefunden hatte. Er hatte die schimmernde Wand aus Wasser gesehen, die mit ungeheurer Wucht über den Rand des Sturzes von Ninga schoss, an ihm vorbei in eine unglaubliche Tiefe, um Meilen unter ihm mit explosiver Wucht auf hartem Gestein aufzuschlagen - aber er hatte sie von hinten gesehen! Irgendwie war er in den riesigen unterirdischen Komplex hinter den gewaltigen Wasserfall gelangt, der das unglaubliche Geheimnis Enwors barg und gleichzeitig den Schlüssel zu seinem Untergang ...
Dann verlosch das Bild wieder. Er hätte in diesem Moment seine rechte Hand dafür gegeben, wieder tiefer in seine Vergangenheit einsteigen zu können. Aber der Zugang zu seinen gerade noch so lebhaften Erinnerungen glitt weiter zu, kaum dass er sich einen Spalt weit geöffnet hatte. Mit einer missmutigen Kopfbewegung schüttelte er die Erinnerung ab. »Jetzt weißt du plötzlich doch Einzelheiten?«, fragte er so ärgerlich, als sei Esanna am Versagen seines Gedächtnisses Schuld. »Wie kommt das? Gerade noch hast du mir gesagt, dass du das Elfte Buch nicht weiter kennen würdest.«
»Das stimmt ja auch«, antwortete Esanna rasch. »Es sind nur... nur ein paar Brocken der Überlieferung. Wenn du mehr wissen willst, musst du dich an die Satai wenden, die ... die seine Lebensgeschichte aufschreiben.«
»Vielleicht habe ich dazu bald Gelegenheit«, murmelte Skar. Er war sich nicht sicher, ob Esanna wirklich die Wahrheit sagte und nur ein paar Brocken der alten Überlieferung kannte, die sie das Elfte Buch nannte - in logischer Reihenfolge, da die ihm bekannte Geschichtsschreibung Enwors in den Heiligen Zehn Büchern zusammengefasst worden war, geführt von den Ehrwürdigen Frauen, den Errish, und gehütet von ihrem Oberhaupt, der Margoi. »Wobei ich allerdings nicht ganz verstehe, was die Satai mit dem Verfassen heiliger Bücher zu tun haben. Ihr Handwerkszeugs war bislang eher das Schwert als Schreibzeug.«
»Heilige Bücher ...«, wiederholte Esanna verstört. »Vielleicht sind es ja doch nur lauter alte Legenden. Genauso wie ihre Drachen...«
»Die Daktylen«, half ihr Skar aus und von einem Moment auf den anderen kehrte die Erinnerung zurück: In der Höhle befanden sich die Kadaver von mehr als einem Dutzend Drachen. Die meisten waren zu Boden gestürzt, aber einige standen auch aufrecht da, in absurden Stellungen eingewoben in die Fäden des schwarzen Netzes, das die Höhle in ein Labyrinth sich überschneidender Fäden und dunkler Klumpen verwandelte. Kiina hob die Hand und deutete auf eine titanische Echse, die halb zusammengebrochen, halb auf den Hinterläufen stehend, in einem Gewirr schwarzer, schenkelartiger Netzfäden hing: Die Augen des gewaltigen Staubdrachens der Margoi, der mächtigen Herrscherin der Errish, strahlten noch im Tode Wildheit aus ...
»Ja, genau. All das ist doch längst vergangen - wenn es denn überhaupt wirklich existiert hat.«
... Das Gesicht der Margoi war ein Totenschädel, kahl, bedeckt mit rissiger Pergamenthaut und von eiternden Wunden entstellt. Eines der Augen der Margoi war blind, überzogen von einem milchigen Netz, und der Mund hinter den entzündeten Lippen hatte keine Zähne mehr.
»Großer Gott!«, wimmerte Kiina. »Was ist mit Euch geschehen?«
Der Totenschädel der Margoi verzerrte sich zu einer Grimasse, die wohl der Versuch eines Lächelns sein sollte. »Wir haben bekommen, was wir... verdient haben.«
Fast gegen seinen Willen riss sich Skar aus der Erinnerung zurück. »Das ist mir neu«, sagte er schließlich leise. Dass die heilige Geschichtsschreibung von den Ehrwürdigen Frauen auf die Satai übergegangen sein sollte, verwirrte ihn fast noch mehr als der Umstand, dass die Errish in der Bedeutungslosigkeit verschwunden sein sollten. Den Niedergang der Errish hatte er schließlich zum größten Teil noch selber miterlebt... Ein Teil des Netzes stürzte brennend im hinteren Drittel der Höhle zusammen und Skar spürte das Beben, das durch den Körper des toten Staubdrachens ging, an dem die Margoi lehnte. »Ich war feige«, sagte die sterbende Herrscherin. »Ich ließ mein Volk im Stich, statt mit ihm zu sterben, wie es meine Pflicht gewesen wäre. Zwei Tage und Nächte blieb ich hier unten und als ich zurückkam, da ... da gab es kein Elay mehr.«