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Das Bild, das Skar so greifbar deutlich vor sich sah, verschwamm und machte etwas anderem Platz und... Der Flammenschein wurde heller und die Luft merklich wärmer. Die zyklopische Mauer, in deren Schatten Kiina und er immer noch standen, war unversehrt geblieben, aber das, was sich vor ihnen erstreckte, war ein Schlachtfeld, die Reste einer Stadt, die ihren Bewohnern zum Grab geworden war. Die von Gewalten zermalmt worden war, die sich Skar weder vorstellen konnte noch vorstellen wollte. Was von den Häusern und Palästen noch stand, das waren ausgebrannte Ruinen, den geschwärzten Skeletten großer gepanzerter Tiere gleich, zwischen denen es hier und da noch immer brannte, ungeachtet des unablässig strömenden Regens. Die Straßen waren voller Schutt und verkohlter Trümmer und über allem lag Staub, den der Regen zu einer schwarzen, schmierigen Schicht gemacht hatte. Und überall lagen Tote - verkrümmte Gestalten in den schmucklosen grauen Mänteln der Errish, Dienstboten, Krieger, Männer, Frauen, Kinder... der Tod hatte keinen Unterschied gemacht, wo und bei wem er zuschlug.

Es war ein erschreckender Gedanke, der ihn aus seiner Verwirrung riss: Du stirbst, Satai. In einer Woche, längstens in einem Monat.

Er blickte überrascht hoch, als hätte jemand laut mit ihm gesprochen. Doch es war die Vergangenheit, die sich mit einem anderen Erinnerungsfetzen gemeldet hatte, wie schon so oft zuvor vollkommen unerwartet. Er wusste nicht, wer diese Drohung vor unendlich langer Zeit ausgesprochen hatte, aber er war sicher, dass er kurz darauf tatsächlich den Tod gefunden hatte... Das Sternenfeuer ist keine Legende, Skar. Es existiert und es liegt in unserer Macht, es zu entfesseln. Willst du das? Willst du, dass ganz Enwor verbrennt?

»Ich will wissen, ich muss wissen, wer du wirklich bist«, sagte Esanna verzweifelt. »Du tauchst wie ein Gespenst aus der Vergangenheit auf und bringst Leid über mich und die meinen ... Was soll das alles nur für einen Sinn haben?« Skar schwieg. Es gab auch nichts, was er im Moment hätte sagen können. Zwischen ihm und Esanna bestand ein Graben, eine Mauer, die er niemals würde ganz einreißen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Es waren zwei verschiedene Welten, seine und die ihre, getrennt nicht nur von den Jahrhunderten, die seit seinem Tod verstrichen waren, sondern auch von einem vollkommen unterschiedlichen Erfahrungshorizont, wie er verschiedener nicht hätte sein können: Während sie auf die dreihundertjährige Geschichte ihres Volks zurückblickte, aber auf nur wenige Jahre eigenen, bewussten Lebens, hatte er weit mehr Erfahrungen, Leid und Schmerzen aufgehäuft, als einem Menschenleben gut tat. Seine einzige ruhige Zeit waren die friedvollen Jahre in den unendlichen Prärien Malabs gewesen, eine Zeit, die ihm damals langweilig und verschwendet vorgekommen war, während sie ihm mittlerweile als unendlich kostbar erschien. »Es tut mir Leid, dass ich dich da mit hineingezogen habe«, sagte er. »Morgen kannst du selbstverständlich deiner Wege ziehen.«

»Mit hineingezogen«, ächzte Esanna. »Scherzt du? Wer weiß, vielleicht machst du ja mit den Quorrl gemeinsame Sache, ohne dich könnten vielleicht mein Vater und alle anderen noch leben.«

»Glaubst du das wirklich? Wahrscheinlich haben die Quorrl schon seit Tagen den Angriff auf euer Dorf geplant. Es spricht vieles dafür. Wenn die Quorrl nicht blindwütig über irgendjemanden oder irgendetwas herfallen, dann planen sie ihre Aktionen sorgsam ...«

»Was soll dieses Geschwafel, großer Skar?«, fragte Esanna. »Willst du dich damit rein waschen von der Schuld, die du auf dich geladen hast?«

»Nein«, sagte Skar, obwohl ihm schmerzlich bewusst war, dass sie, wenn auch vielleicht auf eine verdrehte Art, Recht hatte. »Ich will dir damit nur deutlich machen, dass jede Münze zwei Seiten hat. Und ich will dir klarmachen, dass ich euer Dorf nicht verraten habe, sondern dass seine Vernichtung in einem größeren Zusammenhang stand.«

»Das ist keine Antwort«, fauchte Esanna.

»Vielleicht habe ich auch keine Antwort für dich«, sagte Skar ärgerlich. »Vielleicht gibt es überhaupt keine befriedigende Antwort auf die Frage, warum jemand gewaltsam aus dem Leben scheiden musste. Vielleicht ist es immer eine Verkettung unglücklicher Umstände, die dazu führt.«

»Alles nur faule, stinkende Ausreden«, sagte Esanna verächtlich. »Nichts, was meinem Vater und den anderen das Leben wiedergibt. Nichts, was rechtfertigt, dass du uns nicht beschützt hast und damit unsere Vernichtung in Kauf genommen hast!«

Während sie ihre bittere Anklage vorbrachte, hatte sich ihr Gesicht zunehmend verfinstert. Doch es war wohl nicht Wut, die sie so hatte sprechen lassen, sondern Trauer und je mehr sie sie übermannte, umso mehr brach ihre Selbstbeherrschung zusammen. Die damit einhergehende Veränderung erschreckte ihn: Die soeben noch tapfere junge Frau wurde zum kleinen Mädchen, das vielleicht zum ersten Mal die ganze Tragweite des Geschehens begriff.

Sie schluchzte laut auf und in ihren Augen glitzerte es verdächtig. Ehe sie es verhindern konnte, rannen ihr Tränen die Wangen hinab; zwei feuchte Spuren des Entsetzens, gegen das sie sich jetzt nicht mehr zu wehren vermochte. Skar hatte Männer und Frauen weinen sehen und das aus den verschiedensten Gründen. Vor allem Frauen setzten ihre Tränen manchmal als Waffe ein, aber genauso hätten sie versuchen können, ihn mit einem während eines Handstands ausgeführten Grimassenschneiden zu beeindrucken. Andere weinten vor tiefem Entsetzen und vor Trauer, was er zu gegebenem Anlass durchaus akzeptierte. Kinder aber, egal welchen Alters, die gerade unglaubliches Leid erlebt hatten: Deren Tränen hatte Skar kaum etwas entgegenzusetzen.

»Es tut mir Leid«, sagte er leise. »Ob ich mitschuldig bin an der Vernichtung deines Dorfes oder nicht: Es tut mir Leid.«

»Was ... was nutzt das jetzt noch?« Esanna wandte sich ab und wischte sich mit dem Ärmel ihres Gewands über die Augen. Das machte es beinahe noch schlimmer. Hätte sie ihren Tränen freien Lauf gelassen ... aber so, dieser Versuch Gefühle unter Kontrolle zu bringen, die nicht dafür da waren, kontrolliert zu werden - das schmerzte Skar mehr, als er im Augenblick ertrug.

»Es ist vorbei«, sagte er. »Du hast nichts zu befürchten. Im Gegenteil.«

Doch während er es aussprach, wusste er, dass es eine Lüge war. Es war beinahe so, als wäre durch ihre Tränen ein Schleier ganz besonderer Art von seinen Augen gerissen worden. Glaubst du wirklich, dass dich nur ein Zufall dazu gebracht hat, dieses Mädchen mitzunehmen, sie ihrem Vater und den Quorrl zu entreißen?, fragte eine Stimme in ihm. Er glaubte es natürlich nicht. Er hatte sich während des Gemetzels in Esannas Heimatdorf beinahe so verhalten, als sei sie seine Tochter und nicht die eines zweifelhaften Diggers, die er einer Todesgefahr entreißen musste.

Sie wollte antworten, aber Skar trat rasch auf sie zu, von einem Impuls getrieben, der ihn wohl selbst mehr überraschte als sie, schloss sie in die Arme und presste sie an sich wie ein Ertrinkender, der Halt sucht. Seine Umarmung war fest, viel fester als nötig gewesen wäre. Er spürte es, lockerte den Griff ein wenig und strich ihr übers Haar, sanft und doch voller Selbstverständlichkeit, wie man den Kopf eines Kindes streichelt, das Schutz vor einem Erwachsenen sucht.

»Deswegen dieses Wortspiel mit Ska statt Skar«, stammelte Esanna. »Du wolltest nicht erkannt werden ... aber wie kann es sein, dass du hier bist?«

»Dreihundert Jahre nach meinem Tod, meinst du?«, fragte Skar ohne jede Bitterkeit. »Ich weiß es nicht. Aber es hat auch etwas mit... mit dir zu tun.« Er versuchte die Worte aufzuhalten, die aus ihm herausdrängten, aber es gelang ihm nicht. Die ganze Zeit über war etwas in seinem Kopf blockiert gewesen, hatte er noch nicht einmal ernsthaft über die Frage nachgedacht, warum er Esanna erst gerettet und dann mit in diese Einöde geschleppt hatte. Dabei gab es nur eine Antwort: »Es gibt eine Aufgabe, die ich zu lösen habe, und bei der ich auf deine Hilfe zählen muss.«