»Warte«, ertönte hinter ihm eine Stimme. »Lass mich hier nicht alleine.«
Skar hätte am liebsten laut geflucht. Dieses blöde Kind. Es reichte nicht, dass es sich auffällig umsah, nein, es musste ihm jetzt auch noch hinterherlaufen wie ein Kleinkind, das sich vor einem Gewitter fürchtet.
Zu spät erinnerte er sich daran, dass Ärger ein schlechter Ratgeber war. So auch in diesem Fall. Seine Wut auf Esanna ließ ihn eine Wurzel übersehen, die in einem Knick vor ihm lag und wahrscheinlich von übereifrigen Holzsammlern dort vergessen worden war. Prompt stieß er mit dem Fuß dagegen, wodurch sie ein paar Schritt über den Boden glitt und mit einem lauten Geräusch an einen Vorsprung krachte. »Hier bin ich, Feuerfee«, sagte er säuerlich und versetzte dem Wurzelstück, über das er gestolpert war, einen wütenden Fußtritt. »Vielleicht hättest du die Güte zu warten, bis ich genug Holz zusammenhabe.«
»Ich weiß nicht... ob das so eine gute Idee ist«, sagte Esanna und dann war sie auch schon heran, mit so raschen Schritten, dass ihre offenen Haare in der Zugluft flatterten. »Es war mir fast so, als ob jemand am Höhleneingang war.«
»Na, wunderbar«, sagte Skar betont leichthin, um möglichen heimlichen Zuhörern die Gelegenheit zu geben, ihm immer noch den unbekümmerten Holzsammler abzunehmen. »Wahrscheinlich ein Bärenjunges, das einen Unterschlupf sucht.«
»Kurz vor Morgengrauen?«, fragte Esanna nervös. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Skar seufzte. »Ich kümmere mich gleich darum«, sagte er, was er durchaus ernst meinte. Er konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass ihn jemand in eine Falle gelockt hatte: ein paar Geräusche, die den Satai vom Feuer weg tiefer in das unterirdische Labyrinth lockten, um dann in aller Ruhe den Höhleneingang zu verriegeln und ihnen so den Fluchtweg aus der Höhle abzuschneiden. Diese Idee hätte von ihm stammen können.
Doch ehe er auch nur ansatzweise begriff, was geschah, glitten schwarze Schatten aus dunklen Wänden und verdichteten sich zu einer Gruppe fremdartig wirkender Wesen, die einen fast perfekten Kreis um sie bildeten.
Skar schluckte verblüfft. Er hatte in den letzten Sekunden kein anderes Geräusch gehört als seinen eigenen Herzschlag, das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und das Rascheln und Knistern, das durch seine und Esannas Bewegungen entstanden war. Er begriff nicht, wie es hatte geschehen können, dass ihn plötzlich mehrere knabenhaft wirkende Gestalten geräuschlos umringten. Das gefiel ihm nicht, ganz und gar nicht.
Seine Hand wanderte wie von selbst zum reich ziselierten Griff seines Tschekals und zwei Dutzend Augen schienen der Bewegung zu folgen. Plötzlich hatte Skar Angst. Diese Gestalten erinnerten ihn an irgendetwas, die Art, wie sie sich bewegten, schnell, leise und geisterhaft. Er war sich sicher, schon früher mit Menschen (oder Wesen?) diesen Schlags zu tun gehabt zu haben. Aber er kam nicht darauf, wann das gewesen war und in welchem Zusammenhang seine Erinnerung stand.
Es war so dunkel in diesem Teil der Höhle, dass er ihre Gesichter nicht erkennen konnte und auch nicht zu sagen vermochte, ob sie ihn feindselig, misstrauisch oder auch nur abwartend anstarrten. Ihre eleganten, leichtfüßigen Bewegungen hatten etwas fast Insektenartiges an sich und es wurde ihm bewusst, dass sie wahrscheinlich genauso schnell wieder mit der Dunkelheit verschmelzen konnten, wie sie aus ihr hervorgetreten waren.
Doch das war nicht unmittelbar das, was ihm Sorgen bereitete. Er wusste nicht, wie viele von ihrer Sorte sich noch in der Höhle aufhielten. Aber auch die rund zehn Männer, die sie bereits umringten, erschienen ihm gefährlich genug und er ahnte, dass er einen schweren Stand haben würde, wenn sie ihn angriffen. Zwar waren ihre Hände waffenleer, doch ihre geschmeidigen Bewegungen verrieten, dass es durchaus ernst zu nehmende Gegner waren - falls sie entsprechend geschult waren. Andererseits - schmale, braun gebrannte, auffallend zerbrechlich wirkende Menschen: Wann hatte er schon einmal mit diesem Schlag zu tun gehabt? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.
Eine der Gestalten trat vor, langsam aber mit einer fließenden, fast huschenden Bewegung, die Skars ersten Eindruck von der Gefährlichkeit der Männer bestärkte. »Zor-pah!«, sagte der Mann schnell. »Sena konngif immenisten.« Esanna rückte näher an ihn heran. Ihre Hand glitt in Skars Waffengurt und krallte sich dort ein. Hoffentlich unternahm sie nichts Unbedachtes.
»Ich spreche eure Sprache nicht«, sagte Skar betont ruhig, doch ohne seine Nervosität ganz aus seiner Stimme bannen zu können. Er spürte, wie sich Esanna anspannte und gab ihr mit einem kleinen Wink zu verstehen, dass sie sich ruhig verhalten sollte. Erst dann brachte er seine Waffenhand nach oben und verschränkte seine Arme vor der Brust.
»Du... sprechen Tekanda?«, fragte der kleine braune Mann mühsam und mit einem fürchterlichen Akzent.
»Ja«, bestätigte Skar. »Ich spreche Tekanda.«
Und plötzlich begriff er, erinnerte er sich an Menschen, die er schon längst vergessen geglaubt hatte, an die dunklen, grünbraun gemusterten Kleider, die sie in einem Wald genauso gut tarnten wie hier im finsteren Teil der Höhle, an Körbe voller kleiner, beerenartiger Früchte, hölzerne Schalen und feinmaschige Netze aus geflochtenem Gras, die ihr alltägliches Werkzeug darstellten.
Die Männer waren Nahrak, Hüter des Wandernden Waldes. Es war wie der Rückfall in eine weit entfernte Ewigkeit, in eine Vergangenheit, die so fremd und verschüttet war, dass ihm seine eigenen Erinnerungen wie die eines anderen vorkamen.
Del und er hatten die Nonakeshwüste durchquert, gejagt von einer Horde Quorrl. Er hatte bei dem Kampf mit den Verfolgern zahlreiche Verletzungen davongetragen, aber Del war schlimmer dran gewesen: Seine Schulter war bis auf den Knochen gespalten. Fast wahnsinnig vor Durst, ausgedörrt und kraftlos waren sie auf den Wandernden Wald gestoßen, einem von einem unterirdischen Fluss gespeisten gigantischen Waldstück, das mit wuchernder Beharrlichkeit immer weiter hinauskroch in die Wüste, gehegt von den Hütern des Waldes, kleinen, braunen Menschen ...
... den Nahrak!
»Was macht ihr hier?«
»Wir sind die Hüter«, sagte der kleine Mann mit großem Ernst. »Müssen schützen.«
Skar nickte. Die Nahrak waren nicht die einzigen Bewohner des Wandernden Waldes gewesen, sondern eher so etwas wie seine Gestalter, die Architekten und Bewahrer eines künstlich geschaffenen Wunders. »Ihr seid Nahrak?«, fragte er.
»Ja«, sagte der Mann einfach. »Mein Name ist Kama. Aber das ... das ist nicht wichtig.«
»Nicht wichtig?«, ächzte Esanna. »Du kennst sie, Skar?« Er nickte. »Sein Volk, ja. Aber es ist lange her ...«
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Kama.
»Wieso?«, fragte Skar, während sich seine Gedanken überschlugen. Er verstand nicht, warum die Nahrak hier plötzlich aufgetaucht waren - ohne Waffen und trotz der beißenden Kälte nur mit ihren üblichen leichten grünbraunen Kleidern gekleidet -, aber er war sich so gut wie sicher, dass von ihnen keine Gefahr ausging. Ganz im Gegenteil. Die Männer wirkten besorgt, aber nicht etwa, weil sie auf ihn und Esanna gestoßen waren, sondern ... weil hier vielleicht noch etwas anderes war, auf sie lauerte, etwas, das das Geräusch am Höhleneingang verursacht hatte.
»Gehen«, drängte Kama. »Schnell.«
Skar packte Esannas Arm. »Wir sollten besser tun, was er sagt«, meinte er.
»Wieso?«, wollte Esanna wissen.