Mit einem gellenden Schrei schleuderte er den Tentakel von sich. Schwarze, schleimige Flüssigkeit vermischte sich mit seinem eigenen Blut, das in einer spitzen Fontäne dem Peitschenarm nachjagte. Er stöhnte laut auf und krümmte sich zusammen, als seine überdehnte Lippe wieder zurückschnellte und für einen Augenblick schoss ihm der vollkommen nebensächliche und verrückte Gedanke durch den Kopf, dass er nun in nächster Zeit wohl kaum noch ein Mädchen würde küssen können ...
ESANNA.
Der Gedanke an sie riss den Schleier auseinander, der sich wieder auf sein Bewusstsein gesenkt hatte. Aus trüben Augen erkannte er, dass das passiert war, was er befürchtet hatte: Das Mädchen war unter den Angriffen zusammengebrochen und lag nur ein paar Schritte entfernt von ihm. Mühsam schleppte er sich zu ihr hinüber, vorbei an einem bereits angeschlagenen Nahrak, der mit der Abwehr begehrlicher, hektisch zuckender Peitschenarme beschäftigt war.
Esanna hatte nicht so viel Glück wie der Nahrak gehabt. Er kniete neben ihr in der übel riechenden, sich ringelnden, matschigen Masse, die mit tausend Fingern nach ihm zu greifen schien. Er achtete nicht darauf, bemerkte sie kaum. Das, was dem Mädchen zugestoßen war, schockierte ihn zu sehr.
Zuerst hatte er geglaubt, dass Esanna unter dem Angriff Dutzender von Khtaám in die Knie gegangen wäre. Doch das stimmte nicht: Die Nachtmahre hatten sich erschreckend verändert. Es waren keine einzelnen Lebewesen mehr, sondern ein Kollektiv, ähnlich der übel riechenden Masse, in der er gelegen hatte, als er aus seiner Ohnmacht erwacht war. Aber anders als er war Esanna über und über mit der schwarzen, schlierigen Schicht bedeckt, eingehüllt wie in ein grausiges lebendiges Leichentuch, das sich immer enger um sie schlang. In dem ganzen Krabbeln, Zappeln und Schlängeln glaubte Skar für einen Moment so etwas wie eine einzige zielgerichtete Intelligenz zu erkennen, etwas Gewaltiges, Großes und so Unverständliches, dass ihn allein der Zipfel des Begreifens wie unter einer schweren Last aufstöhnen ließ.
Es war schockierend.
Er hatte keine Ahnung, wie er Esanna retten könnte. Ihre schwarzen Haare vermischten sich mit der noch weitaus dunkleren, zuckenden Masse, ansonsten erkannte er kaum mehr als ein Aufblinken nackter Haut an den Hand- und Fußgelenken und an einer einzigen noch freien Stelle im Genick. Der Körper des Mädchens bewegte sich im gleichen Rhythmus wie ihr lebendiges Gefängnis. Vielleicht war sie schon tot.
Oder Schlimmeres.
Skar starrte wie hypnotisiert auf die formlose Masse, aus der sich Tentakel wanden und drehten. Ein schmatzendes, glucksendes Geräusch kam aus dem Schleim und einen verrückten Augenblick lang hatte er das Gefühl, als ob ihn die zischende Erscheinung anschaute, mit bösartigen, feindseligen Augen. Obwohl er nichts genau erkennen konnte, war er sich sicher, dass da ... Mäuler waren, formlos, klaffend, hungrig ... als ob sich dieses Etwas Esanna gerade einverleiben würde. Es war ein Augenblick der Ewigkeit, angesichts des unabänderlich erscheinenden Grauens. Die Höhlenwände schienen sich wie eine erstickende, lebendige Mauer um ihn herum zuzuziehen und ihm die Luft zum Atmen zu nehmen.
Erst als er glaubte irgendwo unter seinen Füßen ein mächtiges Knirschen und Rumoren zu hören, erwachte er aus seiner Erstarrung. Er hätte zugreifen können, mit beiden Händen in die widerliche Masse greifen, an ihr reißen und zerren können, um Esanna aus der todbringenden Umklammerung zu befreien. Aber er tat es nicht. Was immer da mit ihr geschah - er war machtlos dagegen. Ein Rettungsversuch hätte vielleicht sogar das Gegenteil von dem bewirkt, was er damit hätte erreichen wollen.
Das Beben unter seinen Füßen verstärkte sich und gleichzeitig glitt etwas über den Stiefelschaft in seine Hose, etwas glitschig Saugendes. Skar schlug mit der geballten Faust auf die Stelle, an der sich gerade das fordernd tastende Teil des Tentakels befand. Der peitschenähnliche Fühler verharrte einen Moment, um dann nur noch schneller nach oben zu gleiten.
Skar sprang fluchend einen Schritt zurück - und wäre fast auf der glitschigen Masse ausgerutscht, die jetzt den ganzen Boden bedeckte. Mit beiden Händen und aller Kraft, getrieben von unbändiger Wut packte er zu, erwischte den Tentakel am Oberschenkel und quetschte ihn zusammen. Ein Zittern ging durch den Fühler und irgendetwas kreischte im Hintergrund des Höhlengewölbes auf.
Es ging sehr schnell und beinahe lautlos, aber Skar sah es mit geradezu phantastischer Klarheit. Gewaltige Stücke lösten sich aus den Höhlenwänden vor ihm, dann neigte sich ein dunkler Felsenvorsprung zur Seite und stürzte krachend zu Boden. Die Detonation war so gewaltig, dass sich eine Wolke von feinem Gestein und schwarz-glitschiger Khtaám-Substanz über ihn ergoss. Ohne es verhindern zu können, taumelte Skar ein paar weitere Schritte zurück. Seine Stiefel rutschten auf der ekelhaft zuckenden Masse weiter, als würde er sich auf einem zugefrorenen See befinden.
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er den Eindruck, ein unerträglich helles, blendendes Licht zu sehen, das aus den Wänden brach und dicht hinter ihm in den Boden schlug. Er blinzelte verblüfft und gleichzeitig immer noch entsetzt, dass er den ihn attackierenden Tentakel immer noch nicht vollends hatte abschütteln können, der sich mit unverminderter Wut in seinem Hosenbein zu schaffen machte. Wieder und wieder griffen seine Hände zu, während er gleichzeitig in komisch anmutenden Sprüngen durch die Höhle jagte, vorbei an zwei Nahrak, die ihrerseits damit beschäftigt waren, sich der unaufhaltsamen dunklen Flut zu erwehren.
Der Boden unter ihm erbebte wie von einem gigantischen Faustschlag getroffen. Ein ungeheuerliches Donnern erscholl, als ob die ganze Höhle in sich zusammensacken würde. Was er kurz vor dem Angriff der Khtaám nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen zu haben glaubte, dass die gleitenden Schatten der Nachtmahre direkt aus den Wänden hervorquellen würden, wurde nun zu grausiger Wirklichkeit. Die Gesteinsschicht wurde porös, durchlässig für das, was wohl die ganze Zeit über schon in ihr eingeschlossen gewesen war und sich nun mit Macht nach draußen bohrte. Gestein und Felsteile splitterten weg, als sich die grausige Brut ihren Weg in die Freiheit sprengte.
Sekundenlang starrte Skar wie gelähmt auf das unglaubliche Bild, das sich ihm bot, ungeachtet des Krabbelns an seinem Bein. Es waren tausende, abertausende Wesen, die hervorquollen, übereinander wegrutschten und -sprangen, und instinktiv wusste er, um was es sich handelte: um Khtaám-Larven, haarige, hell quietschende Ungeheuer, auf den ersten Blick Spinnen nicht unähnlich und doch ganz anders, mit viel zu vielen Beinen und schwarz schimmernden Gehäusen, auf denen sich grauer, schmieriger und fast flockig wirkender Flaum abzeichnete.
In diesem Moment hatte der Fangarm Skars Leiste erreicht. Fluchend erwachte er aus seiner Erstarrung. Blitzschnell öffnete er den Gürtel seiner schwarzen Satai-Hose und ließ das Beinkleid hinabgleiten. Noch nie zuvor hatte er sich so schnell entkleidet wie jetzt, und doch war es fast zu langsam. Der Tentakel schnellte in eine besonders empfindliche Region vor. Bevor er sich festbeißen konnte, packte ihn Skar am oberen Ende. Diesmal gelang es ihm, das ganze Ding zu umklammern und mit einem gewaltsamen Ruck von seinem Bein zu reißen.
Keinen Augenblick zu früh. Immer noch mit runtergelassener Hose flüchtete er vor der heranrasenden Woge der Khtaám-Larven, die wie eine Flutwelle in die Höhle hineinbrach, Gestein, Splitter und Dreck vor sich herschiebend. Aber es gab keinen Ausweg, keine Fluchtmöglichkeit; er, die Nahrak und Esanna waren gefangen in dieser Höhle, die zu grässlicher, eigenständiger Lebendigkeit erwachte. Zurückstolpernd tat er doch nichts anderes als ein aufgescheuchtes Beskne-Ferkel, das durch das Blätterdach in eine Fallgrube der Sumpfmenschen geraten war und nun voller Panik nach einem Ausweg suchte, den es nicht gab.