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Er war der Klippe kaum näher als vorhin, aber er konnte sie nun trotzdem deutlicher erkennen. Es waren Ruinen, ganz ohne Zweifeclass="underline" zerborstende Mauern, die einst zinnengekrönt gewesen waren, höhere Bögen gemauerter Brücken, die nun im Nichts endeten, eingestürzte Kuppeln, die sich wie versteinerte Fäuste in den Himmel reckten. Obwohl er sie im Gegenlicht kaum deutlicher denn als Schatten erkennen konnte und ihm die Helligkeit immer wieder die Tränen in die Augen trieb, konnte er doch sehen, dass sie aus einem schwarzen, sonderbaren Stein bestanden, der irgendwie das Licht zu schlucken schien. Er wusste, dass er härter war als Stahl, härter als jedes andere Material, das es auf dieser Welt gab, selbst härter als Diamant. Wenn die Linie aus dunklem Grün, die den Wasserfall säumte, aus Bäumen oder auch nur aus mannshohem Gebüsch bestand, dann mussten ihre Dimensionen wahrhaft gewaltig sein. Dann fiel ihm der logische Fehler in diesem Gedanken auf: Wenn schon nicht ihre Form, so konnte zumindest die Beschaffenheit dieser Ruinen über die große Entfernung unmöglich zu erkennen sein. Was er sah, war nicht wirklich das, was er sah, sondern das, woran er sich erinnerte. Er war schon einmal dort gewesen. In diesen zyklopischen Ruinen war etwas geschehen, etwas, das für sein bisheriges Leben von ebenso großer Bedeutung gewesen war, wie es jetzt keine Rolle mehr spielte. Nichts, was immer er gewesen war oder getan hatte, spielte noch irgendeine Rolle. Ein weiteres Bruchstück gesellte sich zu dem Bild, das in seinem Kopf allmählich Gestalt anzunehmen begann: Er war nicht aus freien Stücken hier, sondern geschickt worden. Um etwas zu tun. Er wusste nicht, was, geschweige denn, von wem, aber er wusste plötzlich, dass es nicht wirklich etwas mit ihm zu tun hatte. Er war nur ein Werkzeug, willkürlich ausgewählt und ohne seine Zustimmung einzuholen.

Wenn er seine eigene Reaktion aus der vergangenen Nacht bedachte, dann hätte ihn diese Erkenntnis eigentlich zornig machen sollen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er hatte einen Teil des Schleiers, der vor seinen Erinnerungen lag, gelüftet. Nicht viel. Nicht einmal einen Zipfel, der ausreichte, um hindurchzublicken, oder auch nur zu erahnen, was auf der anderen Seite lag. Aber er hatte begonnen zu einem ganz kleinen Stückchen wieder der Mann zu sein, der er einmal gewesen war. Ein Mann, der niemals aufgab und der an seinen Gegnern wuchs, statt daran zu zerbrechen. Der kämpfen und siegen, aber auch verlieren gewohnt war, und der mit einer Niederlage ebenso umzugehen wusste wie mit einem Sieg.

Er verschob die Lösung dieses Problems auf später. Er konnte nicht gegen jemanden kämpfen, den er nicht einmal kannte.

Ganz allmählich begann er sich der Klippe zu nähern. Er marschierte eine gute Stunde, dann eine zweite, in der die Sonne langsam weiter am Himmel emporstieg, und mit jedem Stück, dass sie zurücklegte, mehr an Kraft zu gewinnen schien. Obwohl das Ufer auch hier von scharfkantigen Felsen gesäumt war und die Oberfläche des Sees unter der Wucht des niederstürzenden Wassers schäumte und brodelte, kletterte er in dieser Zeit zwei- oder dreimal zum Wasser hinab, um seinen Durst zu löschen. Die Linderung, die er dabei verspürte, war eine gefährliche Täuschung, das war ihm klar; er hatte bereits jetzt einen Sonnenbrand auf Schultern und Nacken, der sich im Moment nur als lästiges Kribbeln bemerkbar machte, spätestens in der kommenden Nacht aber wirklich unangenehm werden musste. Dazu kam, dass das grelle Licht seine Sehfähigkeit beeinträchtigte. Er beschleunigte seine Schritte, obwohl ihm klar war, dass das bisschen an Schnelligkeit, das er dabei gewann, das Mehr an Kraft nicht aufwog, das ihn die schnelle Gangart kostete.

Er war sehr hungrig. Die barbarische Mahlzeit vom Morgen hatte nur seinen Magen beruhigt, nicht aber seinen Hunger gestillt. Er musste die Klippe oder wenigstens irgendeinen Schatten erreichen, bevor die Sonne noch höher stieg. Ein Sonnenbrand konnte durchaus tödlich sein.

Er blickte nach links auf die brodelnde Oberfläche des Sees hinab. Der Gedanke, in unmittelbarer Nähe dieser gewaltigen Menge Wassers einen Hitzschlag zu erleiden oder sich lebensgefährliche Verbrennungen zuzuziehen, war geradezu lächerlich, zugleich aber auch bitter ernst. Schwert und Faust waren nicht die einzigen Waffen, die einen Krieger töten konnten. Viel gefährlicher war es, seine eigenen Grenzen nicht zu kennen oder die teilnahmslosen Gewalten der Natur zu unterschätzen.

Er balancierte ein weiteres Mal zum See hinunter, löschte ausgiebig seinen Durst und schöpfte eine Hand voll Wasser, um sein Gesicht zu kühlen. Er widerstand bewusst der Versuchung, sich Wasser über Kopf und Schultern zu gießen, um seinen Sonnenbrand zu kühlen. Die Tropfen, die unweigerlich auf seiner Haut zurückbleiben mussten, würden wie kleine Brenngläser wirken und ihm nur eine Illusion von Linderung verschaffen, für die er teuer bezahlen musste.

Nach einer weiteren Stunde erreichte er die Felswand. Schon von weitem konnte er sehen, dass seine Hoffnungen enttäuscht wurden. Dort, wo sie nicht von Gischt und niederstürzendem Wasser verborgen wurde, ragte die natürlich gewachsene Mauer so glatt und fugenlos in die Höhe, als wäre sie von einem Riesen poliert worden. Nirgendwo gab es einen Spalt, nicht die kleinste Unebenheit, die auch nur genug Schatten gespendet hätte, um sich vor der Sonnenglut zu verkriechen. Ein geschickter Kletterer hätte sie sicherlich ersteigen können, wäre sie nur ein Zehntel so hoch gewesen, wie sie es nun einmal war, und der Stein nicht ganz so schlüpfrig und nass. Es auch nur zu versuchen, war der reine Selbstmord.

Die Felswand erstreckte sich zur Rechten, so weit sein Blick reichte und vermutlich noch ein gutes Stück darüber hinaus. Links, über dem See, verschwand sie hinter einem glitzernden Vorhang aus Wasser, der brüllend aus der Höhe herabstürzte und dessen Wucht den Boden unter seinen Füßen ununterbrochen erzittern ließ. Das Dröhnen des Wasserfalls war so gewaltig geworden, dass es seine Ohren fast betäubte, und er bewegte sich nun durch einen Nebel aus unendlich feiner Gischt, der sich wie ein dünner glitzernder Film auf seine Haut legte.

Je näher er dem Wasserfall kam, desto schwieriger wurde es, von der Stelle zu kommen. Der Boden bestand hier nur noch aus nacktem Fels, auf dem nicht einmal die kleinste Spur von Leben Fuß gefasst hatte. Das Wasser machte ihn schlüpfrig wie Glas und die scharfen Kanten taten seinen nackten Füßen weh. Er war dem Wasserfall jetzt so nahe, dass er die Ruinen an seinem Rand kaum noch erkennen konnte. Trotzdem konnte er sehen, dass er sich in ihrer Größe getäuscht hatte.

Sie waren noch weitaus titanischer, als es von weitem ausgesehen hatte. Und auch die Zerstörungen waren schlimmer, als es bisher den Anschein gehabt hatte.

Er blieb stehen, unschlüssig, was er tun sollte, aber auch beunruhigt. Die stiebende Gischt, die ihn einhüllte, gab ihm ein wenig Schutz vor der Sonne, aber er konnte nicht ewig hier bleiben. Sollte sich die Wand als wirklich unbesteigbar erweisen, dann hatte er ein Problem - vorsichtig ausgedrückt. Der tiefer gelegene Teil des Landes, in dem der See und die felsige Ebene lagen, schien vollkommen unfruchtbar zu sein. So weit sein Blick reichte, konnte er nichts als schwarzen Fels und von der Sonne zu steinerner Härte zusammengebackenes Erdreich erkennen. Irgendwo, tief in ihm, war zwar das Wissen, dass diese Ebene nicht endlos war. Der Fluss führte fast in gerader Linie nach Süden und in fruchtbare Gebiete. Aber das war nicht die Richtung, in der sein Ziel lag - ganz davon abgesehen, dass er vermutlich den Abend nicht erleben würde, wenn er versuchte nackt durch diese Sonnenglut zu marschieren.

Nein - er musste dort hinauf, irgendwie.

Er wich wieder um einige Dutzend Schritte zurück, legte den Kopf in den Nacken und beschattete die Augen mit der Hand, um mehr Einzelheiten erkennen zu können. Er war nicht ganz sicher, ob es ihm gelang. Dort oben schien sich etwas zu bewegen, aber es mochte ebenso gut eine Täuschung sein, hervorgerufen durch das grelle Licht und die wehenden Gischtschleier, die die Sonnenstrahlen brachen und alle Konturen zu verwischen schienen, als hätte sich die Welt dort oben aufgelöst, sodass die Dinge ineinander zu fließen begannen.