Im nächsten Moment schrie er vor Schmerz auf. Sein Bein wurde mit einem brutalen Ruck von dem Felsband herunter und ins Wasser gezerrt. Ein grauenhafter Schmerz explodierte in seiner Hüfte und fast im gleichen Moment auch in seinem Schultergelenk, als sein Körper auf eine fast unmögliche Weise verdreht und gleichzeitig weiter zum Wasser hinuntergezerrt wurde. Die Muskeln in seinem rechten Arm schienen zu zerreißen. Verzweifelt warf er sich herum, ignorierte mit zusammengebissenen Zähnen den neuen, vielleicht noch schlimmeren Schmerz, der von seinem Rückgrat ausstrahlte und binnen weniger Augenblicke seinen gesamten Körper ergriff und versuchte, sich auch mit der anderen Hand festzuklammern. Seine Rechte pulsierte vor Schmerz; Muskeln und Sehnen waren längst überdehnt und selbst seine Knochen schienen unter der Belastung zu ächzen. Nur noch wenige Augenblicke und seine Kräfte würden versagen und er würde einfach ins Wasser hinabgezerrt werden und ertrinken.
Mit dem dritten Anlauf erst gelang es ihm, den vorspringenden Stein auch mit der anderen Hand zu ergreifen, sodass er den rechten Arm ein wenig entlasten konnte. Nicht einmal sehr, aber immerhin weit genug, dass er nicht mehr vor Schmerz wimmerte und jeden Moment damit rechnete, dass seine Muskeln und Sehnen einfach zerrissen. Er versuchte seinen Körper so weit zu drehen, dass der mörderische Druck auf sein Rückgrat ein wenig gemildert wurde, doch es gelang ihm nicht. Sein rechtes Bein war bis über das Knie im Wasser verschwunden und der andere Fuß scharrte hilflos über den Fels. In der unglücklichen Haltung, in der er mehr kniete als stand, gelang es ihm einfach nicht, sich hinlänglich abzustützen, um die benötigte Hebelwirkung aufzubringen.
Aber er musste es. Er konnte die Hand, die ihn gepackt hatte, nicht mehr sehen, aber dafür spürte er sie umso deutlicher. Ihr Griff war wie Stahl. Allein die Vorstellung, sich daraus befreien zu wollen, erschien ihm lächerlich.
Trotzdem versuchte er es. Die Kraft, die seinen Muskeln innewohnte, war gewaltig, aber sie war längst nicht alles. Tief in ihm war das Wissen verborgen, wie er sich das noch viel größere, schier unerschöpfliche Reservoir an Energie nutzbar machen konnte, das in jedem Menschen war, ohne dass die meisten von ihnen Zeit ihres Lebens auch nur etwas davon ahnten. Er schloss die Augen, konzentrierte sich und spürte, wie ihn eine sonderbare Ruhe und Gelassenheit überkamen, gepaart mit einer Woge neuer Stärke und dem unbändigen Willen zu überleben. Der Schmerz in seinem Rücken und seinen Oberarmen war immer noch da, aber er schien irgendwie seine Macht über ihn verloren zu haben. Statt ihn Kraft zu kosten, gab er ihm neue Energie. Auch das war ein Teil seines alten Lebens, an den er sich plötzlich und fast zusammenhangslos wieder erinnerte: Er hatte gelernt aus Schmerz Zorn und aus diesem Zorn Kraft zu machen.
Fast zu seinem eigenen Erstaunen funktionierte es. Der Schmerz war noch da, aber plötzlich irrelevant. Seine Muskeln kreischten protestierend, gehorchten seinem Willen aber trotzdem und zwangen ihn Zoll für Zoll in die Höhe. Der Druck auf seine verdrehte Wirbelsäule wurde dadurch noch größer, aber er ignorierte auch diese neuerliche Qual und fand ganz im Gegenteil mit dem freien Fuß plötzlich eine stabile Position, aus der heraus er sich weiter nach oben drücken konnte. Der mörderische Griff um seinen rechten Knöchel lockerte sich nicht, aber plötzlich war er es, der den unbekannten Angreifer weiter nach oben zerrte, statt umgekehrt. Sein Bein tauchte allmählich wieder aus dem Wasser auf, und als er den Blick senkte, konnte er die Hand, die ihn gepackt hielt, auch wieder sehen; vielleicht zum ersten Mal wirklich deutlich.
Sie war noch riesiger, als er im ersten Moment geglaubt hatte - bald doppelt so groß wie seine eigene - und er war gewiss nicht zart gebaut -, und mit dunkelgrünen, harten Schuppen bedeckt. Die Nägel waren kurz und rund, aber scharf wie Messer und hatten bereits eine Anzahl kleiner tiefer Wunden in seine Haut gegraben. Es war nicht die Hand eines Menschen, so wenig wie der Arm und die Schulter, die kurz darauf aus dem Wasser auftauchten, einem Menschen gehörten ...
Der Anblick des Geschöpfes erfüllte ihn mit einem solchen Entsetzen, dass er für einen Moment in seiner Konzentration nachließ; vielleicht nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber trotzdem zu lang. Er fiel schmerzhaft wieder auf ein Knie herab. Sein rechtes Bein versank erneut und noch tiefer im Wasser, dann glitten seine Finger hilflos von dem Stein ab, an den er sich geklammert hatte. Er kippte nach hinten und schrie auf, hörte aber nicht einmal seinen eigenen Schrei, denn der Laut wurde einfach von seinen Lippen gerissen und vom Dröhnen des Wasserfalls übertönt, und im nächsten Moment wurde er von dem Ungeheuer, das ihn gepackt hielt, weiter unter Wasser und in die Tiefe gezerrt.
Er schluckte Wasser, würgte krampfhaft und widerstand im letzten Moment dem Impuls aufzuschreien und auf diese Weise auch noch das letzte bisschen kostbare Atemluft zu verlieren. Verzweifelt schlug und trat er um sich und er spürte auch, dass er traf. Sein linker, freier Fuß hämmerte zwei- oder dreimal mit furchtbarer Gewalt in das Gesicht des geschuppten Kolosses, aber die erhoffte Wirkung blieb aus; das Wasser nahm seinen Tritten den Großteil ihrer Kraft, und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hätte der Gigant seinen Angriff vermutlich kaum gespürt. Dafür wurde er immer tiefer und tiefer unter Wasser gezerrt. Auf seinen Ohren lag mittlerweile ein spürbarer Druck und er konnte die Wasseroberfläche über sich kaum noch sehen. In seinen Lungen war kaum noch Atemluft. Wenn es ihm nicht gelang, sich in den nächsten Augenblicken zu befreien, würde er ertrinken, selbst wenn das Ungeheuer ihn losließ. Etwas berührte seinen Rücken und seine Seite, strich über sein Gesicht und schien sich um seine Arme wickeln zu wollen, und er hatte einen flüchtigen Eindruck von etwas Dunklem, Wehendem, das mit einem Male rings um ihn herum im Wasser war. Tang oder Schlingpflanzen; er war schon zu tief unter Wasser, um Einzelheiten zu erkennen, und er hatte auch keine Zeit sich darum zu kümmern. Seine Lungen kreischten vor Schmerz und seine Kräfte begannen bereits zu erlahmen. Er krümmte sich, griff nach unten und versuchte, die geschuppten Finger zurückzubiegen, die sich um sein Fußgelenk gekrallt hatten. Ebenso gut hätte er versuchen können Stahl mit bloßen Händen zu zerbrechen. Der Griff des Ungeheuers war unerbittlich und er wurde immer weiter und weiter in die Tiefe gezerrt. Der schwarze Tang machte alles noch schlimmer. Er wickelte sich um seine Arme und Beine, schien ihn in seinen Würgegriff ziehen zu wollen und peitschte in sein Gesicht. Es war, als hätte er seinen eigenen, bewussten Willen, einen gelenkten, boshaften Intellekt, der darauf zugerichtet war, sein Opfer zu packen und unbarmherzig weiter in die Tiefe zu zerren. Dann geschah etwas, was schlagartig klar machte, dass genau das der Fall war: Ein Dutzend oder mehr der schwarzen Fangarme schossen blitzartig aus der Dunkelheit unter ihm herauf, wickelten sich wie Peitschenschnüre um Arme, Hals und Kopf der geschuppten Kreatur und rissen sie mit brutaler Kraft weiter in die Tiefe. Was seinen verzweifelten Anstrengungen nicht gelungen war, geschah nun im Bruchteil einer Sekunde: Die Klaue löste sich mit einem letzten, brutalen Ruck von seinem Bein und er war frei.
Aber vielleicht war es bereits zu spät. Die Wasseroberfläche hatte sich in einen kochenden weißen Himmel aus Schaum und wütender Bewegung verwandelt, der unendlich weit über ihm zu sein schien. Unsichtbare Hände von unvorstellbarer Kraft zerrten ihn herum, wirbelten ihn um seine eigene Achse und drückten ihn immer noch weiter nach unten. Sein verzweifelter Kampf hatte ihn genau unter den Wasserfall gebracht. Was dem Ungeheuer nicht gelungen war, das würden die Naturkräfte nun zu Ende bringen: Er würde ertrinken. Die Atemnot war jetzt schon unerträglich. Aus dem Brennen in seinen Lungen war ein brüllender Schmerz geworden und seine Gedanken begannen sich zu verwirren.