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Immerhin sah er noch, dass seine Vermutung richtig gewesen war: Bei dem schwarzen Geflecht handelte es sich keineswegs um Tang oder irgendeine andere Wasserpflanze, sondern um Tentakel. Einige von ihnen waren so dick wie sein Arm, andere so dünn wie sein kleiner Finger oder peitschend wie Haar, das sich im Wind bewegte: die Fangarme eines bizarren Ungeheuers, das am Grunde des Sees lauerte und nach der geschuppten Kreatur auch ihn verschlingen würde, sobald er ertrunken war.

Stattdessen geschah das Gegenteil. Erneut schossen Dutzende von Fangarmen aus der Tiefe empor, wickelten sich um seine Arme und Beine und rissen ihn mit unvorstellbarer Kraft in die Höhe, direkt hinein in die brodelnde Hölle aus tobendem Schaum und reiner Bewegung. Er wurde emporgerissen, war für den Bruchteil eines Augenblickes über Wasser und tauchte wieder in die schäumende Gischt ein, noch bevor es ihm gelang, Atem zu holen. Er wehrte sich, kämpfte gegen jede Logik und mit der schieren Kraft der Verzweiflung gegen die beiden seelenlosen Gewalten an, die ihn zu vernichten suchten - das tobende Wasser und den Würgegriff der Tentakel -, und wusste doch, dass es vollkommen sinnlos war. Er würde noch eine Sekunde durchhalten, vielleicht zwei. Seine Lungen schienen mit brodelnder Lava gefüllt zu sein, Feuer floss durch seine Adern, und ein weiß glühender Schmerz aus reiner Pein hatte sich um seine Brust gelegt und zog sich enger und enger zusammen.

Dann ergriff ihn die Hand eines Riesen, riss ihn mit unvorstellbarer Gewalt aus dem Wasser und schleuderte ihn im hohen Bogen auf das Ufer hinauf. Er war zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, um den Sturz irgendwie abzufangen oder auch nur schützend die Hände vor das Gesicht zu reißen. Er schlug mit solcher Wucht zwischen den Felsen auf, dass er für einige Sekunden tatsächlich das Bewusstsein verlor.

Als er erwachte, lag er mit dem Gesicht nach unten zwischen den Felsen. Er bekam wieder Luft, aber jeder Atemzug brannte wie Feuer in seinen Lungen und allein die Vorstellung sich zu bewegen, bereitete ihm schon fast Übelkeit. In seinem Körper schien kein einziger Muskel zu sein, der nicht gequetscht, und nicht eine einzige Sehne, die nicht überdehnt oder gezerrt war. Stöhnend wälzte er sich auf den Rücken, stemmte sich auf die Ellbogen hoch und sah an sich herab.

Im ersten Moment erschrak er. Er sah aus, als wäre er gehäutet worden. Was auf den ersten Blick jedoch wie eine Unzahl blutiger Wundmale aussah, erwies sich bei näherem Hinsehen als ein Durcheinander sich überschneidender Striemen und roter Druckstellen.

Erst jetzt erinnerte er sich wieder an die Fangarme, die ihn gepackt und die geschuppte Kreatur in die Tiefe gezerrt hatten. Ein kurzer, aber eisiger Schauer rann seinen Rücken hinab. Er hatte mehr als nur Glück gehabt. Hätte das Ungeheuer nicht die Schuppenkreatur als Erstes ergriffen, dann läge er jetzt vermutlich auf dem Grund des Sees, um als willkommene Zwischenmahlzeit verdaut zu werden ...

Wahrscheinlich war es unnötig. Trotzdem kroch er ein kleines Stück weiter das Ufer hinauf, sodass seine Beine nicht mehr im Wasser hingen, ehe er es wagte, sich weiter aufzurichten und sich umzusehen. Er war nicht allzu weit von der Stelle entfernt, an der er ins Wasser gefallen war, aber auf der anderen Seite des Wasserfalls. Die Strömung und das blinde Wüten des Ungeheuers hatten ihn unter dem tödlichen Wasservorhang hindurchgezogen.

Erneut wurde ihm klar, welch unglaubliches Glück er gehabt hatte. Er befand sich weit am Rande des Wasserfalls. Selbst hier hatte das Wasser, das aus der Höhe herabstürzte, schon ungeheure Kraft. Weiter zur Mitte der Felswand und des Sees hin musste sie hundertmal so stark sein. Wäre er in diese Hölle hineingezogen worden ...

Er zog es vor, diesen Gedanken nicht zu Ende zu verfolgen, sondern richtete sich weiter auf, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zur Felswand hoch. Er war seinem eigentlichen Ziel keinen Schritt näher gekommen, aber wenigstens hatte er eine Spur. Er war mittlerweile gar nicht mehr sicher nur durch einen reinen Zufall auf den Felsenweg hinter dem Wasserfall gestoßen zu sein. Nichts hier war ihm wirklich fremd. Dass die Erinnerungen noch immer nicht greifbar waren, bedeutete nicht, dass es sie nicht gab. Vermutlich war er gut beraten, wenn er weiter einfach auf seine Gefühle hörte - die vermutlich gar keine Ahnungen waren, sondern tatsächlich Erinnerungen, die sich auf Umwegen zurückmeldeten. Er musste irgendwie dort hinauf. Es gab dort oben Menschen. Aber wie er gerade auf ziemlich drastische Weise erfahren hatte, auch Ungeheuer - er war inzwischen fast sicher, dass es sich bei dem Wesen, das ihn ins Wasser gezerrt hatte, um eine der beiden Gestalten handelte, die von der Klippe gestürzt waren. Wahrscheinlich hatte es ihn gar nicht angegriffen, sondern in seinem Todeskampf einfach die Hand nach der ersten Bewegung ausgestreckt, die es sah. Dort oben aber gab es Menschen. Er wusste es einfach.

Als er sich herumdrehte, sah er, dass es auch hier unten Menschen gab, zumindest einen.

Er trieb nur ein kleines Stück vom Ufer entfernt mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Seine Arme und Beine bewegten sich leicht in der Strömung, sodass es im allerersten Moment aussah, als winke er mit letzter Kraft um Hilfe, aber das war natürlich unmöglich. Er war tot. Das Wasser in seiner unmittelbaren Nähe hatte sich rosa gefärbt, und seine linke Hand war zerschmettert; vielleicht vom Sturz auf einen Felsen, der unter der Wasseroberfläche gelauert hatte, vielleicht auch durch die pure Kraft des Wasserfalls zermalmt.

Behutsam näherte er sich dem Ufer, watete bis zu den Knien ins Wasser und ließ seinen Blick für eine geraume Weile über die Wellen schweifen, bevor er es wagte weiterzugehen. Dass der Tote scheinbar reglos im Wasser trieb, schien zu beweisen, dass es an dieser Stelle keine gefährlichen Unterströmungen und Wirbel gab, aber er hatte schließlich am eigenen Leib erlebt, wie tückisch das Wasser war - und da war auch noch das Ungeheuer, das am Grunde des Sees lebte. Dass es den Toten verschmäht hatte, bedeutete nicht, dass es nicht da war. Vielleicht fraß es ja nur lebende Beute.

Etwas berührte sanft seine Hüfte, als er weiterging und sich der Gestalt näherte, die leblos im Wasser trieb, zog sich aber zu schnell zurück, als dass er auch nur richtig Zeit gefunden hätte zu erschrecken. Trotzdem beeilte er sich den Toten an Land zu zerren. Es fiel ihm erstaunlich leicht. Der Mann war ungefähr so groß wie er und von kräftigem Wuchs, musste also relativ schwer sein, doch er spürte sein Gewicht kaum.

Ohne spürbare Anstrengung zog er den Leichnam ans Ufer und ein Stück weit die Felsen hinauf. Als er fast aus dem Wasser heraus war, spürte er Widerstand. Er zog noch einmal und kräftiger - und ebenso vergebens - drehte den Kopf und sah etwas, was ihn im Nachhinein erschrecken ließ: Ein daumendicker, schwarz glänzender Strang hatte sich um den Knöchel des Toten gewickelt und hielt ihn mit eiserner Kraft fest.

Er ließ den Toten los, ging wieder zum Wasser und versuchte den Tentakel zu lösen, aber der Fangarm saß so fest, als wäre er mit dem Bein des Toten verwachsen. Er brauchte ein Werkzeug; vielleicht einen scharfen Stein. Er ließ los, ließ seinen Blick suchend über die Felsen streifen und entdeckte etwas weit Besseres: Der Tote trug einen schmalen Dolch im Gürtel. Er nahm ihn an sich, setzte die rasiermesserscharfe Klinge an dem schwarzen Strang an und hatte es kaum getan, als sich der Tentakel auch schon mit einem schmatzenden Laut vom Bein des Toten löste und im Wasser verschwand. Eine Erfahrung, die sich später als nützlich erweisen konnte: Das Ungeheuer war in der Lage Schmerzen zu empfinden.

Da er nicht besonders versessen darauf war herauszufinden, ob die Kreatur auch Rachedurst verspürte, schob er den Dolch rasch wieder unter den Gürtel des Toten zurück und beeilte sich dann den Leichnam ein gutes Stück weit das Ufer hinaufzuzerren. Er wusste nicht, wie groß die Reichweite des Ungeheuers war, hatte aber keine Lust eine böse Überraschung zu erleben. Er war dem Tod zu knapp entronnen, um jetzt ein Risiko einzugehen. Vorsichtshalber schleifte er den Toten noch ein gutes Stück weiter den Strand hinauf, ehe er ihn zu Boden sinken ließ und sich daranmachte, ihn zu untersuchen.