»Wenn ich die Spuren richtig deute, waren die Quorrl in voller Kampfmontur«, bestätigte Skar und richtete sich wieder auf, »aber niemand sagt uns, dass sie gegen die Digger gezogen sind.«
»Natürlich nicht«, sagte Esanna scharf. »Ich hatte ja ganz vergessen, dass du ein Quorrl-Freund bist!«
Skar zuckte mit den Achseln. »Wenn du meinst. Ich sehe das zwar etwas anders: Aber lass uns das nicht hier und jetzt besprechen. Ich fürchte, wir werden am Fluss noch eine böse Überraschung erleben. Und nun komm.«
Esanna starrte ihn sprachlos an. »Du willst in dein Verderben rennen?«, fragte sie scharf. »Obwohl du weißt, dass am Pojoaque eine Horde Quorrl auf uns lauert?«
»Ich glaube kaum, dass sie auf uns lauern«, sagte Skar. »Es passt nicht zu den Quorrl, sich tagelang irgendwo festzusetzen in der vagen Hoffnung, es käme jemand vorbei, den sie niedermachen könnten.«
»Was passt denn dann zu ihnen?«
»Das eben will ich herausfinden«, sagte Skar. Er drehte sich ohne ein weiteres Wort um und begann den Weg in Richtung Fluss hinabzugehen; Esanna blieb gar nichts anders übrig, als ihm zu folgen, wollte sie nicht alleine in dieser Einöde stehen bleiben.
Auf dem Weg kamen sie wesentlich schneller voran als auf dem Wildpfad. Skars Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt. Der Wald war hier nicht so dicht, dass sich Quorrl in ihm hätten verbergen können, ohne dass er sie bemerkt hätte. Trotzdem fühlte er sich alles andere als wohl. Es war still hier, fast unnatürlich still angesichts des wuchernden Grüns; selbst die Vögel hielten sich zurück mit ihrem Gesang, so als spürten auch sie den nahen Tod, dessen jetzt geradezu beißender Gestank Skar in die Nase stieg.
Sie brauchten nicht weit zu gehen, bis sie das Ende des Waldes erreicht hatten: Er hörte einfach von einem Moment auf den anderen auf, ohne in Buschwerk auszulaufen, fast, als wäre er einst künstlich so angelegt worden. Sie verlangsamten automatisch ihre Schritte und bei dem Gedanken, dass sie in eine Falle laufen konnten, aus der es kein Entrinnen mehr gäbe und in der Esanna den Tod finden könnte, krampfte sich in Skar etwas so sehr zusammen, dass ihm die Knie weich wurden.
»Hinter den letzten Bäumen liegt der Pojoaque«, flüsterte Esanna, während sie wie Skar jetzt vollends stehen blieb. Skar nickte. Das Rauschen gleichmäßig gleitenden Wassers war laut und deutlich zu hören, ein fremdartiger und doch vertrauter Laut, der so eintönig wirkte, als würde er nicht den Gesetzen der Zeit unterliegen. Er wurde sich plötzlich bewusst, dass er diesen Fluss zumindest vom Hörensagen kennen musste; wenn auch wahrscheinlich unter einem vollständig anderen Namen. Den Ausdruck Pojoaque hatte er jedenfalls in noch keinem Zusammenhang gehört - und schon gar nicht in Bezug auf einen großen Strom.
»Vorsichtig jetzt«, sagte Skar. Er zog sein Schwert, doch das vertraute Gewicht des Sternenstahls vermochte ihn diesmal nicht zu beruhigen. Es war nicht so sehr die Sorge vor einem Kampf, den er vielleicht nicht zu bestehen vermochte, als vielmehr die Sorge um das Mädchen, das ihn nervös machte.
»Was tun wir?«, fragte Esanna und in diesem Moment wirkte sie fürchterlich jung und verletzlich.
»Du wartest hier«, sagte Skar. »Und ich sehe mich um.« Esanna schüttelte den Kopf. »Wir sehen uns um.«
Skar wollte zu einer scharfen Entgegnung ansetzen; aber als er ihrem Blick begegnete, unterdrückte er seine Bemerkung. Esanna war blass, verletzlich und sowohl körperlich als auch seelisch überfordert - aber sie hatte auch einen Dickkopf, der seinem in nichts nachstand. Außerdem war es fraglich, ob sie hier alleine sicherer sein würde als mit ihm zusammen am Fluss.
»Also gut«, sagte Skar. »Dann komm.«
Mit wenigen Schritten hatten sie den Waldrand erreicht. Der Anblick des Flusses traf ihn wie ein Schlag; er war ganz ähnlich, wie er ihn erwartet hatte und doch ganz anders. Der Strom lief hier breit und mächtig über ein Kiesbett, in das sich größere und kleinere Felsen eingegraben hatten wie Wachposten einer vergessenen Welt. An einigen Stellen gischtete das Wasser gegen den harten Widerstand größerer und kleinerer Felsbrocken an; ansonsten lief es eher träge und gelassen abwärts, als verfüge es über das sichere Bewusstsein, dass nichts es aufhalten konnte.
Aber das war nicht alles.
Ein beißender Geruch, ein süßlicher Leichengestank trieb von der Wasseroberfläche herauf und verpestete die frische, klare Bergluft; hier und da brach sich Licht, von dem er nicht wusste, woher es kam, auf den Wellen und das Geräusch des Wassers war zu einem machtvollen, dumpfen Rauschen angestiegen. Dunkle Körper lagen im Uferschlamm, silbrig glänzende Waffen und zerborstene Schilde, doch erst beim Näherkommen erkannte Skar, wer sich da im erbitterten Kampf begegnet war: Es waren einige von Armbrustbolzen oder Lanzen durchbohrte geschuppte Giganten darunter, gut ausgestattete Quorrl-Krieger, aber die meisten waren armselig gekleidete Menschen, Digger höchstwahrscheinlich, und ein paar junge Männer, die die gleiche Kleidung trugen wie er selbst: Satai.
Es war nicht neu, dass Quorrl und Satai gegeneinander kämpften. Aber das hier war etwas anderes, das spürte Skar sofort. Es sah so aus, als würden sich Digger und Satai gemeinsam sammeln, um die Quorrl so lange zu hetzen, bis auch der Letzte von ihnen tot war.
»Diese verfluchten Quorrl«, sagte Esanna. Sie hielt den Arm unter die Nase gepresst, wohl um den üblen Gestank von Tod und Verwesung so gut wie möglich abzumildern. »Sie haben sie einfach niedergemetzelt.«
Skar schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick über den Fluss und das gegenüberliegende Ufer wandern. Er suchte nach einem Hinweis, einem Zeichen, das ihm die Anwesenheit lebender Menschen oder Quorrl verriet. Vor allem aber hielt er nach allem Ausschau, was sich als Anzeichen für einen Hinterhalt deuten ließ; nach umgestürzten Bäumen, die so ausgerichtet waren, dass sie einen perfekten Sichtschutz bildeten, nach der Reflexion von Metall oder glatt poliertem Lederzeug im Dickicht des Ufers, nach kaum wahrnehmbaren Bewegungen am Waldrand oder hinter größeren Felsen inmitten des Flusses.
»Ich sehe mir das mal etwas näher an«, sagte er leise. Esanna widersprach ihm nicht, als er alleine die wenigen Schritte bis zum Schlick zurücklegte und sich in die Hocke hinabließ, um einen der Satai, der mit dem Gesicht im Schlamm lag, herumzudrehen. Das bereits von Würmern durchzogene Gesicht schien ihn höhnisch anzugrinsen, so als wolle es Skar noch im Tod verspotten. Die Hand des Toten hielt eine Armbrust umklammert, die keinen einzigen Bolzen mehr enthielt.
»Diese feigen Mörder«, sagte Esanna. Sie trat an den Toten heran und starrte wie benommen auf ihn herab. »Die Quorrl haben ihn einfach abgeschlachtet.«
Skar sah zu ihr hoch und richtete sich dann langsam wieder auf; er ließ seinen Blick wachsam über die nähere und weitere Umgebung schweifen, jederzeit darauf gefasst, bei dem geringsten Anzeichen einer Gefahr konsequent zu reagieren. »Ich glaube nicht, dass die Quorrl ihn und die anderen abgeschlachtet haben«, sagte er dann. »Es sieht eher so aus, als ob die Quorrl in einen Hinterhalt geraten wären.«
»Immer wieder nimmst du die Quorrl in Schutz«, sagte Esanna voller Wut und frischem Schmerz. »Aber selbst, wenn du in diesem Fall Recht hättest: Diese Monster haben den Tod tausendfach verdient!«
Skar wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich mit ihr auf einen Streit darüber einzulassen. Die Fakten sprachen auch so für sich: Wären es wirklich die Quorrl gewesen, die hier einer Gruppe Menschen einen Hinterhalt gelegt hätten, dann wäre dieser Satai wohl kaum dazu gekommen, seine Armbrust leer zu schießen. Ganz abgesehen davon, dass ihn eine solche Waffe in den Händen eines Satais mehr als befremdete, ja, sie kam ihm regelrecht obszön vor.
»Die Quorrl wollten an dieser Furt den Fluss überschreiten«, sagte er und die Sicherheit, mit der er seine Worte wählte, zeigte deutlich, dass er von ihrem Wahrheitsgehalt überzeugt war. »Die Digger haben sich dort hinter den Steinen versteckt«, er deutete auf eine Reihe moosbewachsener Felsen hinter ihnen, »sie schossen ihre Bogen und Armbrüste leer, als die Quorrl in der Mitte der Furt waren, und stürmten ihnen dann entgegen. Im gleichen Moment griffen die Satai im Rücken der Quorrl an: So lange müssen sie gewartet haben, um die Quorrl in der Sicherheit zu wiegen, ihr Heil im Angriff und nicht erst einmal im Rückzug zu suchen.« Er schüttelte den Kopf, als könne er es selbst nicht glauben. »Es war ein geplantes Gemetzel. Aber warum hier? Warum so weit in den Bergen?«