Sein erster Eindruck schien sich zu bestätigen: Der Mann war ihm sowohl an Größe als auch an Wuchs ähnlich, schien aber wesentlich jünger gewesen zu sein. Nicht nur seine Glieder, sondern auch ein Teil seines Gesichts war zerschmettert, sodass man sein Alter - oder gar sein Aussehen - nur schätzen konnte, aber er war wohl noch ein halbes Kind gewesen; ein Leben, das geendet hatte, noch bevor es richtig begann. Trotzdem wies sein Körper unter den frischen Verletzungen eine Anzahl alter Narben auf. Er musste ein Krieger gewesen sein. Ein Satai.
So wie er selbst.
Ein seltsames Gefühl überkam ihn, als er die Kleider des Toten genauer in Augenschein nahm. Er hatte den Leichnam aus dem einzigen Grund aus dem Wasser gezogen, um sich seiner Kleider zu bemächtigen und nicht länger schutzlos und nackt der Sonne ausgeliefert zu sein, aber plötzlich wagte er es fast nicht mehr, sie zu berühren. Es war ein Gefühl zwischen Ehrfurcht, Wiedererkennen und dem Empfinden, etwas ... Falsches zu tun. Ein Teil seiner Erinnerung war wieder da, ausgelöst durch den Anblick der vertrauten Kleider: Der Tote trug eng anliegende, wadenhohe Stiefel aus fein gegerbtem Leder, die sich weich und anschmiegsam wie Seide anfühlten. Ein knielanger, schwarzer Umhang wurde von einer silbernen Fibel über seiner rechten Schulter zusammengehalten. Sein einziger Schmuck war ein dünnes ledernes Stirnband, an dem ein daumennagelgroßer, fünfzackiger Stern aus Silber befestigt war.
Die Kleidung eines Satai.
Er war ein Satai gewesen, Anhänger einer Kaste, die Krieger waren, zugleich aber auch weit mehr, Verteidiger uralter Werte und Bewahrer eines Glaubens, der vielleicht mehr Wissen als Glauben war und nichts mit Religion zu tun hatte. Satai.
Es war seltsam: Er sollte das Gefühl haben einen Teil seines alten Lebens zurückzuerhalten, während er in die grob gewebten schwarzen Hosen des Toten schlüpfte und anschließend seine Stiefel anzog, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er fühlte sich unwohl. Wenn er wirklich ein Satai gewesen war - woran er mittlerweile kaum noch zweifelte -, so gehörte dies zu einem Teil seiner Vergangenheit, der abgeschlossen war. Er hatte eine Aufgabe gehabt und sie erfüllt. Er sollte diese Kleider nicht mehr tragen.
Trotzdem legte er auch den Brustharnisch und den Umhang an, schloss den komplizierten Mechanismus der Fibel über seiner rechten Schulter, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, und bückte sich als Letztes, um den Waffengurt anzulegen. Er war sehr schmal, hatte eine schmucklose Schließe aus mattem Silber und schien aus einer Art gegerbter Reptilienhaut zu bestehen. Neben dem Dolch, den er schon einmal benutzt hatte, befand sich eine viel längere Scheide aus der gleichen Drachenhaut, in der ein prachtvolles Schwert steckte. Als er den reich ziselierten Griff herauszog, stellte er fest, dass die Klinge zwar länger als sein Arm, aber kaum so breit wie zwei nebeneinander gelegte Finger war. Dann wusste er, was er in der Hand hielt: Ein Tschekal, die heilige Waffe eines Satai. Sie zu berühren, bedeutete den Tod für jeden Nicht-Satai. Die Klinge aus geschmiedetem Sternenstahl war härter als jedes andere Material auf dieser Welt und konnte ebenso mühelos einen Diamanten zerschmettern, wie sie ein Haar zu spalten vermochte.
Aber etwas stimmte mit dem Tschekal nicht. Es war nicht so gut ausbalanciert, wie es hätte sein müssen, und der Griff sollte ebenso schmucklos wie massiv sein, eine einfache Parierstange und ein mit festem Leder umwickeltes Griffstück, kein fein ziseliertes Kunstwerk aus Silber und Gold. Trotzdem schob er die Waffe nach kurzem Zögern in ihre Umhüllung zurück, band sich den Waffengurt um die Hüften und wandte sich wieder der Felswand zu. Mit den Kleidern hatte sich nicht nur sein Aussehen verändert. Seine Bewegungen waren geschmeidiger und schneller geworden und seinen Schritten war nicht das geringste Zögern anzumerken. Es war ihm nicht einmal selbst bewusst, aber hätte es jemanden gegeben, der ihn beobachtete, so wäre der Unterschied nicht zu übersehen gewesen: Der Mann, der in der vergangenen Nacht aus dem See aufgetaucht war und sich mit letzter Kraft ans Ufer geschleppt hatte, war ein Verlorener gewesen, namen- und erinnerungslos und voller Furcht vor der Welt, die ihn erwartete.
Der, der sich nun der Klippe näherte, war ein Krieger.
1.3
Der Pfad zog sich am Fuße der Felswand entlang, so weit sein Blick reichte - was in diesem Fall nicht besonders weit war. Schon in dreißig oder vierzig Schritten Entfernung begann das Felsband hinter hochsprühender staubfeiner Gischt zu verschwimmen, und zudem war die Klippe leicht gekrümmt, sodass er ohnehin nicht hätte sehen können, was vor ihm lag.
Trotzdem wusste er, dass er sich in der richtigen Richtung bewegte. Irgendwo vor ihm, vielleicht noch hundert, vielleicht auch zweitausend Schritte entfernt, lag sein Ziel. Er hatte zwei- oder dreimal begonnen seine Schritte zu zählen, war aber jedes Mal schon nach kurzem durcheinander gekommen und hatte es schließlich aufgegeben. Es spielte keine Rolle, wie viele Schritte noch vor ihm lagen. Außerhalb des Sturzes von Ninga führte kein Weg die Klippe hinauf. Sein Ziel lag irgendwo vor ihm.
Er ging weitere hundert Schritte, dann noch einmal und noch einmal. Die Gischt wurde immer dichter, sodass sie ihm fast den Atem nahm und seine Kleider vor Nässe triefend an seinem Körper herabhingen, und auf dem letzten Stück kam er der brüllenden Wasserwand so nahe, dass er nur die Hand hätte auszustrecken brauchen, um sie zu berühren; ein Experiment, das wahrscheinlich tödlich verlaufen wäre. Die Wand, die unmittelbar neben ihm in die Tiefe stürzte, war wie Glas. Er konnte sich selbst darin spiegeln, als wäre sie aus fester Materie. Weniger als eine Armeslänge entfernt und unter ihm jedoch explodierte sie in einem Chaos aus weißem Schaum und wütender Bewegung.
Nach einer Ewigkeit begann die Wand und damit auch der herausgemeißelte Pfad an ihrem Fuß wieder von der Wassermauer zurückzuweichen; zuerst nur sacht, sodass er es kaum bemerkte, aber dann immer rascher und rascher, bis er aus Dunst und stiebender Gischt hervortrat und sich urplötzlich in einer gewaltigen halbrunden Höhle wieder fand, deren Boden, Decke und vordere gerade Wand aus Wasser bestanden. Genau im Scheitelpunkt des Halbrundes, dort, wo sich der Pfad mit seinem aus der anderen Richtung kommenden Spiegelbild vereinigte, begannen die Stufen einer gewaltigen, immer breiter werdenden Treppe, die zu einem Torbogen von wahrhaft zyklopischen Abmessungen emporführte. Sowohl die Treppenstufen als auch der Torbogen selbst - er musste zwanzig Manneslängen, wenn nicht mehr, messen - bestanden aus schimmerndem Sternenstahl, dem gleichen Metall, aus dem das Schwert an seiner Seite gefertigt war.
Für die Dauer vieler, schwerer Herzschläge stand er einfach da und starrte das phantastische Gebilde an, erfüllt von einem Gefühl zwischen Ehrfurcht und Staunen, aber auch ein wenig Furcht. Es war fast unheimlich: Er wusste, dass dies sein Ziel war, der Weg, der ihn nach oben auf die Klippe bringen würde, aber gleichzeitig wusste er auch, dass er noch nie zuvor hier gewesen war. Und wenn er zehn Leben statt nur einem hinter sich gebracht hätte, diesen Anblick hätte er doch niemals vergessen.
Es war nicht die Größe des Tors, die ihn erschütterte. Er hatte Bauwerke gesehen, die zehnmal größer und hundertmal prachtvoller waren. Es war das Material, aus dem es erbaut worden war. Sternenstahl war die härteste Materie, die es auf dieser Welt gab. Selbst die heiligen Tschekals zu schmieden hatte Jahrzehnte gedauert und der Anstrengung nicht nur der klügsten Alchimisten, sondern auch der mächtigsten Zauberer der Errish bedurft, und nur zu oft waren diese Anstrengungen nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Keine Macht dieser Welt, nicht einmal die eines Gottes, konnte ausreichen, so etwas zu erschaffen.