3.7
Sie waren fast eine halbe Stunde unterwegs, als der Regen einsetzte und aus leichtem Nieseln ein hartnäckiges Prasseln wurde, das mit sturer Gleichmäßigkeit auf sie niederging und ihre Kleidung innerhalb weniger Minuten vollkommen durchnässte. Die Pferde fielen von selbst in einen gemäßigten, kräftesparenden Galopp, während sie dem gewundenen Waldweg folgten, so als wollten sie dem feuchten Nass möglichst schnell entkommen. Doch schon bald glich der aufgeweichte Boden einer einzigen Schlammpfütze, in der die Pferdehufe tief einsanken und so wenig Widerstand fanden, dass der Tross nach und nach wieder langsamer wurde, so sehr sich einige Reiter auch bemühten ihre Tiere anzutreiben.
Skar beugte sich so tief über den Hals seines Pferdes, wie er konnte, aber die Regentropfen stachen weiter wie dünne spitze Nadeln in seine Augen; er sah kaum noch etwas und überließ sich ganz dem Pferd, das seinen Platz innerhalb des Trosses ganz selbstverständlich neben Marna und seiner persönlichen Leibgarde aus zwei gigantischen Satai eingenommen hatte, die so groß und massig waren, dass sich ihre Silhouetten kaum von denen der rund fünfzig begleitenden Quorrl unterschieden. Bis auf Marnas Leibwache hatte Skar bislang nur eine Hand voll Satai zu Gesicht bekommen und er fragte sich, wie das zusammenpasste: Marna sammelte die Satai zu einem Vernichtungsfeldzug gegen die Quorrl und bediente sich gleichzeitig einer stattlichen Anzahl der Reptilienkrieger, um seine Politik durchzusetzen.
Der Wald wurde dichter und der Weg schmaler, weil immer mehr knorrige Äste und dichtes Buschwerk an den Seitenrändern wucherten und damit für allzu stürmische Reiter zum Hindernis wurden, wenn sie ihnen zu nahe kamen. Der allseits geschlossene Kreis aus Leibern und starrenden Waffen machte es Skar dennoch unmöglich, mehr als nur einen flüchtigen Blick auf das vorbeijagende Grün zu werfen und nach etwas Ausschau zu halten, was sich als Fluchtweg anbieten könnte. So dicht, wie der Tross aus kampfbereiten und ihm gegenüber äußerst argwöhnischen Kriegern durch das warme Nass ritt, war es sinnlos, auch nur einen Herzschlag lang einen Gedanken an eine Flucht zu verschwenden; zumindest im Augenblick. Die Gestalten der Quorrl vor ihm wurden zu einem auf und ab hüpfenden Schatten mit verschwommenen Umrissen, und das dumpfe Hämmern der Pferdehufe schien irgendwo in seinem Schädel widerzuhallen wie dumpfer, drohender Trommelschlag. Ein sonderbar körperliches Empfinden machte sich in ihm breit, die Vorahnung einer Gefahr, die sich in seiner Seele eingenistet hatte und ihn unter normalen Bedingungen dazu gebracht hätte anzuhalten und das Ziel seines Ritts zu überdenken.
Nach einer Weile drängte Skarissa Marna seinen prächtigen Rappen neben seinen Braunen; die beiden Pferde, mittlerweile aus dem leichten Galopp in einen mühsamen Trab gefallen, waren so nah beieinander, dass Skars Bein an dem Steigbügel des merkwürdigen Satai-Führers vorbeischrappte. »Du hast dir wirklich einen interessanten Augenblick für deine Wiederkunft ausgesucht«, sagte Marna. Seine Stimme klang so leichthin, als würde er eine Bemerkung über das Wetter machen, aber Skar spürte, dass es nur die Einleitung zu einem Gespräch war, bei dem er ausgehorcht werden sollte.
»Alles im Leben ist ein Frage des richtigen Zeitpunkts«, fuhr Marna fort, nachdem er zuerst eine Weile vergebens auf eine Reaktion Skars gewartet hatte. »Und ich frage mich, wer in deinem Fall den Zeitpunkt bestimmt hat.«
»Ist es denn für dich der richtige Zeitpunkt?«, fragte Skar fast gegen seinen Willen.
»Das zu beurteilen steht mir nicht an«, sagte Marna, »jedenfalls noch nicht.«
»Na, dann ist ja gut«, sagte Skar und drehte sich demonstrativ zur anderen Seite. Er war nicht an einem Gespräch mit dem goldbehelmten Satai interessiert - zumindest nicht zu dessen Bedingungen.
»Was ich dagegen schon jetzt zu beurteilen habe«, fuhr Marna im Plauderton fort, »ist, ob ich dich und deine beiden merkwürdigen ... Waffengefährten schon heute hinrichten lasse - oder ob es besser ist, einen anderen Zeitpunkt zu wählen.«
Skar starrte eine Weile schweigend in den Regen vor sich und in das gleichmäßige Auf und Ab der kräftigen Quorrl-Pferde, die sich immer schwerer taten das Gewicht ihrer geschuppten Reiter über den braunen Morast zu tragen. Irgendwo weiter vorne, das hatte er am Rande mitbekommen, mussten sich neben einigen Satai auch Kama und Esanna befinden - doch so weit entfernt, dass er sie von hier aus nicht sehen konnte.
»Ich verstehe nicht, warum du mich töten willst«, sagte er ruhig, »wenn du doch weißt, wer ich bin.«
Hinter dem Visier drang ein kehliges, metallen verzerrtes Lachen hervor. »Eine Fangfrage? Oder bist du wirklich so naiv? Hast du wirklich geglaubt, die Welt würde nur auf dich warten, Skar, um dir Beifall zu zollen für das, was du vor dreihundert Jahren angetan hast?«
Skar schwieg mürrisch. Er wurde aus diesem komischen Ober-Satai nicht schlau. Dass er sie umbringen lassen wollte, weil er fürchtete, Skar könnte ihm seinen Machtanspruch streitig machen - das nahm er ihm im Grunde noch nicht einmal übel. Machtgetriebene wie dieser Skarissa Marna - was war das überhaupt für eine schwachsinnige Wortschöpfung: Skarissa? - konnten nicht anders. In der Beschränktheit ihres Denkens war kein Platz für große Zusammenhänge; sie sahen alles nur unter dem Blickwinkel des direkten Nutzens. Aber was sollte dieser Vorwurf, dass er der Welt etwas angetan hatte? Daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. Soweit er wusste, hatte er seinerzeit alles getan, um Enwor vor einer Katastrophe zu bewahren - was ihm ja offensichtlich auch gelungen war, ansonsten würde dieser Skarissa nicht über eine gut ausgebildete Schar von Satai und Quorrl verfügen, sondern höchstens über ein paar zerlumpte Bauerntölpel herrschen. »Du schweigst wie ein verstocktes Kind«, seufzte Marna. »Aber es wundert mich nicht, dass mit Leuten deines Schlags nicht zu reden ist. Das war es noch nie. Ihr mischt euch in alles ein und zerschlagt ohne Sinn und Verstand alle gewachsenen Strukturen.«
»Ist es das, was du fürchtest?«, fragte Skar verächtlich. »Hast du Angst, ich könnte dir wegnehmen, was du dir in aller Ruhe aufgebaut hast? Glaubst du wirklich, ich wollte dich aus deinem Rattennest vertreiben?«
Der Satai mit der Goldmaske schüttelte den Kopf, als könnte er nicht fassen, welchen Unsinn Skar von sich gab. »Du lässt ganz eindeutig den nötigen Respekt vermissen. Das fängt schon damit an, dass du mich duzt, als wäre ich ein dreckiger Digger. Alle Menschen und alle Quorrl haben sich an die korrekte Form der Anrede zu halten, wenn sie mit mir sprechen...«
»Skarissa Marna«, unterbrach Skar ihn nachdenklich, »das erinnert mich an irgendetwas.«
»Dass dieser Titel von dir entlehnt ist, ist schon schlimm genug«, stöhnte Marna. »Aber dass jetzt ausgerechnet du auch noch auftauchst, um mit mir darüber zu debattieren: Nein, das geht wirklich zu weit.« Er beugte sich ein Stück in Skars Richtung vor und schoss die Frage ab, die ihm wohl schon die ganze Zeit über auf der Zunge gelegen hatte: »Wer, sagtest du, hat dich die Prophezeiung erfüllen lassen?«
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«
»Ach nein, tatsächlich?« Die metallisch verzerrte Stimme Marnas hatte einen eindeutig spöttischen Klang. »Dann wird es dich freuen zu hören, dass sich in den letzten Jahren die Kunst des Folterns massiv weiterentwickelt hat. Ich lasse dir gerne persönlich die Errungenschaft unserer Zeit angedeihen...«
»Und du glaubst, damit kannst du mir drohen?«
»Nicht unbedingt«, sagte Marna fröhlich. »Aber ich kann mir vorstellen, wie ein Mann mit deinem beschränkten Verständnis für die wesentlichen Dinge darauf reagiert, wenn man Digger-Mädchen als kleine Aufwärmübung Fingernagel für Fingernagel aus den Fingern reißt, bevor man zu den effektiveren Methoden zur Deformierung einer Persönlichkeit schreitet. Aber vielleicht bist du ja auch ein Mann, den ich falsch einschätze, und du findest Gefallen an einer solchen kleinen Darbietung.«