Tyler Stanford saß auf der Richterbank und hörte mit unbewegter Miene zu. Er konnte es kaum erwarten, daß Hal Baker endlich aufhörte zu reden, damit er sein Urteil verkünden konnte. Glaubt dieser Idiot etwa wirklich, daß er mit so einer rührseligen Geschichte davonkommt?
Hal Baker näherte sich dem Ende seines Plädoyers.»… und da sehen Sie nun, Euer Ehren, selbst wenn ich etwas Falsches getan habe, so habe ich doch in richtiger Absicht gehandelt: für meine Angehörigen, für die Familie. Ihnen muß ich doch nicht erklären, wie wichtig das ist. Falls ich ins Gefängnis muß, werden meine Frau und meine Kinder verhungern. Ich bin mir bewußt, daß ich einen Fehler begangen habe, aber ich bin bereit, ihn wiedergutzumachen. Ich bin von ganzem Herzen bereit, Euer Ehren, alles zu tun, was Sie von mir verlangen…«
Und es war dieser eine Satz, der Stanfords Aufmerksamkeit erregte, so daß er den Angeklagten mit größtem Interesse betrachtete. »Bereit, alles zu tun, was Sie von mir verlangen.«Tyler reagierte jetzt genauso instinktiv wie bei Dmitri Kaminski: Der Mann dort könnte ihm bei Gelegenheit einmal sehr nützlich werden.
Der Ankläger fiel aus allen Wolken, als Tyler sein Urteil verkündete:»Mr. Baker, in Ihrem Fall sind mildernde Umstände anzuerkennen. Aufgrund solcher mildernden Umstände und mit Rücksicht auf Ihre Familie gebe ich Ihnen fünf Jahre auf Bewährung, und ich erwarte von Ihnen eine Leistung von sechshundert Arbeitsstunden zugunsten der Öffentlichkeit. Kommen Sie zu mir ins Amtszimmer, damit wir uns im einzelnen über diesen Punkt verständigen.«
Als sie im Amtszimmer ungestört beisammensaßen, warnte Tyler:»Ich könnte Sie für eine sehr lange Zeit ins Gefängnis schicken, wissen Sie.«
Hal Baker erbleichte.»Aber, Euer Ehren, Sie haben mir doch…«
Tyler beugte sich vor.»Wissen Sie eigentlich, was mich an Ihnen so beeindruckt?«
Hal Baker dachte angestrengt darüber nach, was wohl an ihm so eindrucksvoll sein könnte, mußte jedoch zugeben:»Nein.«
«Ihr Familiensinn«, sagte Tyler andächtig.»Sehr bewundernswert.«
Hai Bakers Miene hellte sich auf.»Vielen Dank für das Kompliment, Sir. Meine Familie ist das Allerwichtigste, was es auf der Welt für mich gibt. Ich…«
«Dann wollen Sie Ihre Familie gewiß nicht verlieren, stimmt's? Falls ich Sie ins Gefängnis schicken würde, müßten Ihre Kinder nämlich ohne Sie aufwachsen, und Ihre Frau würde sich höchstwahrscheinlich einen anderen Mann suchen. Sie verstehen, worauf ich hinauswill?«
Hal Baker war verwirrt.»N… Nein, Euer Ehren, eigentlich nicht.«
«Also — ich sorge dafür, daß Ihnen Ihre Familie erhalten bleibt, Baker, und dafür erwarte ich umgekehrt Dankbarkeit von Ihnen.«
«Oh, die ist Ihnen sicher, Euer Ehren!«beteuerte Hal Baker voller Überzeugung.»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin.«
«Vielleicht können Sie's mir in Zukunft beweisen. Ich werde Sie möglicherweise einmal darum bitten, ein paar Kleinigkeiten für mich zu erledigen.«
«Ich werde alles tun, was Sie wünschen!«
«Gut. Ich lasse Sie auf Bewährung laufen, aber falls ich in Ihrem Verhalten irgend etwas entdecken sollte, was mein Mißfallen erregt…«
«Sie brauchen mir nur zu sagen, was ich für Sie tun kann!«flehte ihn Baker an.
«Ich werde Ihnen Bescheid geben, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, außerdem bleibt dieses Gespräch strikt unter uns beiden.«
Hal Baker legte sich die Hand aufs Herz.»Lieber will ich sterben, als es auch nur einer Menschenseele zu erzählen.«
«So ist's recht«, sagte Tyler.
Kurze Zeit später meldete sich Dmitri Kaminski telefonisch bei Tyler. »Ihr Vater hat seinen Anwalt angerufen und hat sich mit ihm in Boston verabredet. Montag morgen. Er will sein Testament ändern.«
Tyler begriff, daß er dieses Testament unbedingt sehen mußte.
Und dies war der richtige Moment, um mit Hal Baker in Kontakt zu treten und seine Dienste in Anspruch zu nehmen.
«… der Name der Anwaltskanzlei lautet Renquist, Renquist & Fitzgerald. Machen Sie von dem Testament eine Kopie, und bringen Sie mir die Kopie.«
«Kein Problem, Euer Ehren, ich besorge Ihnen die Kopie.«
Als Tyler zwölf Stunden später eine Fotokopie des Testaments in Händen hatte, versetzte ihn die Lektüre in Hochstimmung. Woody, Kendall und er waren die einzigen Erben. Und am Montag will Vater das Testament ändern. Der Mistkerl will uns alles wegnehmen! dachte Tyler verbittert. Nach all den Jahren der Demütigungen, die wir uns von ihm gefallen lassen mußten… gehören seine Milliarden wirklich uns, und wir haben sie uns redlich verdient!
Es gab nur eine Möglichkeit, ihn an der Änderung seines Letzten Willens zu hindern.
Als Dmitri das nächste Mal anrief, befahl Tyler:»Sie müssen ihn umbringen. Diese Nacht.«
Langes Schweigen.
«Aber wenn ich gefaßt werde…«
«Sorgen Sie dafür, daß Sie nicht gefaßt werden. Die Jacht wird auf See sein, und auf See kann doch alles mögliche passieren.«
«In Ordnung. Und danach…«
«Die vereinbarte Summe und ein Flugticket nach Australien werden für Sie bereitliegen.«
Und etwas später kam der letzte, der erlösende Anruf von Dmitri.
«Ich hab's getan, und es war gar nicht schwierig.«
«Nein! Nein! Nein! Ich will die Details hören, alle Details! Erzählen Sie mir jede Kleinigkeit, alles. Lassen Sie nichts aus…«
Und während Tyler zuhörte, liefen die Ereignisse auf der Jacht vor seinem inneren Auge ab.
«Wir befanden uns auf der Fahrt nach Korsika und gerieten in einen schweren Sturm. Er rief mich zu sich in die Kabine. Ich sollte ihn massieren.«
Tyler umklammerte den Hörer.»Ja. Weiter…«
Auf dem Weg zur Kabine Harry Stanfords hatte Dmitri wegen des starken Schlingerns der Jacht im Sturm Mühe gehabt, sich auf den Beinen zu halten. Als er die Tür der Kabine erreichte, hörte er auf sein Anklopfen sogleich Stanfords Stimme.
«Eintreten!«rief Stanford, der bereits auf dem Massagetisch lag.»Den unteren Rücken.«
«Ich werde ihn pflegen. Entspannen Sie sich, Mr. Stanford.«
Dmitri trat zum Massagetisch, verteilte Öl über Stanfords Rücken, um dann mit seinen kräftigen Fingern geschickt die Muskelverkrampfungen zu bearbeiten, was recht bald zu einer Entspannung führte.
«Tut das gut«, stöhnte Stanford.
Die Massage dauerte eine ganze Stunde, und Stanford war fast eingeschlafen, als Dmitri aufhörte.
«Ich werde Ihnen ein warmes Bad einlaufen lassen«, sagte Dmitri. Nachdem er den Wasserhahn für warmes Seewasser aufgedreht hatte, kehrte er ins Schlafzimmer zurück, wo Stanford noch mit geschlossenen Augen auf dem Massagetisch lag.
«Mr. Stanford…«
Stanford schlug die Augen auf.
«Das Bad ist fertig.«
«Ich glaube nicht, daß ich jetzt ein Bad brauche…«
«Es wird Ihnen guttun, und Sie werden danach fest schlafen. «Er half Stanford vom Tisch und geleitete ihn zum Badezimmer.
Während Stanford sich in die Wanne setzte, ließ Dmitri ihn keine Sekunde aus den Augen.
Stanford hob unvermittelt den Kopf, sah die Eiseskälte in den Augen und begriff instinktiv, was ihm bevorstand.»Nein!«schrie er und wollte aufstehen.
Als Dmitri ihm seine großen Hände auf den Kopf legte und ihn in das Wasser drückte, da konnte sich Stanford noch so vehement zur Wehr setzen und alles versuchen, um wieder hochzukommen und Luft zu kriegen — aber gegen die Kraft des Hünen Kaminski kam er nicht an. Dmitri hielt Stanfords Kopf so lange unter Wasser, bis seine Lungen sich mit Seewasser füllten und jede Bewegung erstarb. Einen Augenblick blieb Dmitri schwer atmend stehen, dann stürzte er ins Nebenzimmer.