Bis auf Woody und Peggy waren alle im Wohnzimmer in Rose Hill versammelt, und Steve Sloane studierte die
Gesichter.
Richter Stanford machte einen ungewöhnlich entspannten Eindruck. Kendall wirkte seltsam verkrampft, und ihr Mann Marc, der für diese Zusammenkunft am Vortag aus New York eingetroffen war, war ein gutaussehender Franzose und ein paar Jahre jünger als seine Frau. Und schließlich Julia — sie nahm ihre Aufnahme in die Familie auffallend ruhig und gelassen hin. Steve wurde nachdenklich. Ich hätte eigentlich erwartet, daß ein Mensch nach einer unerwarteten Millionenerbschaft ein bißchen aufgeregt ist.
Er ließ ihre Gesichter noch einmal Revue passieren. Ob einer von ihnen Harry Stanfords Leiche gestohlen hatte? Und wenn ja, wer könnte es gewesen sein, und zu welchem Zweck?
Tyler hatte das Wort ergriffen.»Mr. Sloane, mit dem Erbschaftsrecht des Staates Illinois bin ich vertraut, nur weiß ich nicht, wie sehr es sich von den hiesigen Gesetzen unterscheidet. Wir hätten gern von Ihnen gewußt, ob sich die Prozedur nicht irgendwie beschleunigen ließe?«
Steve mußte innerlich grinsen. Ich hätte darauf bestehen sollen, daß Simon meine Wette annimmt. Er wandte sich Tyler zu.»Wir arbeiten daran, Richter.«
«Der Name Stanford«, sagte Tyler mit Nachdruck,»müßte doch helfen, ein bißchen Druck zu machen.«
Damit hat er völlig recht, dachte Steve und nickte.»Ich tue, was ich kann. Sofern es überhaupt möglich sein sollte, die…«
Von der Treppe her drangen laute Stimmen herüber.
«Halt endlich den Mund, du blöde Kuh! Ich will nichts mehr davon hören! Hast du mich verstanden!?«
Woody und Peggy kamen die Treppe herunter und betraten den Raum. Peggys Gesicht war geschwollen, und sie hatte ein blaues Auge. Woody grinste, und seine Augen glänzten unnatürlich.
«Tag alle miteinander. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.«
Die Blicke aller Anwesenden richteten sich schockiert auf Peggy.
Kendall stand auf.»Was ist geschehen?«
«Gar nichts. Ich… ich bin gegen eine Tür gerannt.«
Woody ließ sich auf einen Stuhl sinken, und Peggy nahm neben ihm Platz. Woody tätschelte ihr die Hand und erkundigte sich fürsorglich:»Fühlst du dich wohl, Liebste?«
Peggy nickte, sagte aber nichts.
«Gut. «Woody widmete seine Aufmerksamkeit den anderen.»Also — was habe ich verpaßt?«
Tyler warf ihm einen mißbilligenden Blick zu.»Ich hatte Mr. Sloane gerade gefragt, ob er nicht ein bißchen Druck machen kann, damit das Testament rasch in Kraft tritt.«
«Das wäre mir nur recht. «Woody wandte sich grinsend an Peggy.»Du hättest doch sicher gern ein paar neue Kleider, nicht wahr, mein Schatz?«
«Ich brauche keine neuen Sachen«, erwiderte sie nervös.
«Auch wahr. Du gehst ja doch nie aus, oder?«Er drehte sich wieder den anderen zu.»Peggy ist nämlich sehr schüchtern. Sie weiß nicht, worüber sie sich unterhalten könnte. Hab ich recht?«
Peggy rannte aus dem Zimmer.
«Ich will sehen, wie's ihr geht«, sagte Kendall, stand auf und ging aus dem Zimmer.
Du meine Güte! dachte Steve. Wenn Woody sich schon in Gegenwart fremder Menschen so aggressiv aufführt, wie wird er sich da erst verhalten, wenn er mit seiner Frau allein ist!?
Woody ergriff das Wort.»Wie lange«, fragte er Steve,»sind Sie schon in Fitzgeralds Kanzlei tätig?«
«Fünf Jahre.«
«Ich werde nie verstehen, wie Sie's ausgehalten haben, für meinen Vater zu arbeiten.«
«Ihr Vater konnte, soweit ich weiß«, Steve suchte nach dem richtigen Wort,»… ziemlich schwierig sein.«
Woody schnaubte.»Schwierig? Er war ein zweibeiniges Ungeheuer! Wußten Sie, daß er für jeden von uns einen Spitznamen hatte? Mich hat er immer nur Charlie genannt — nach Charlie McCarthy, einer Scheinperson des Bauchredners Edgar Bergen. Meine Schwester hieß bei ihm nur Pony, weil er fand, daß sie ein Pferdegesicht hatte. Und sein Spitzname für Tyler…«
Steve, dem die Sache peinlich war, fiel ihm ins Wort.»Ich glaube wirklich nicht, daß Sie…«
«Ist schon gut«, lenkte Woody ein.»Millionen von Dollar heilen viele Wunden.«
Steve erhob sich.»Nun denn, wenn Sie weiter nichts auf dem Herzen haben, sollte ich mich jetzt wohl besser verabschieden. «Er konnte es nicht abwarten, nach draußen an die frische Luft zu kommen.
Peggy drückte sich im Badezimmer gerade ein kaltes, feuchtes Tuch an die geschwollene Wange, als Kendall eintrat.
«Peggy? Geht es dir gut?«
Peggy drehte sich um.»Mir geht's gut, danke… Tut mir leid, das vorhin unten.«
«Du entschuldigst dich? Wütend solltest du sein. Seit wann schlägt er dich schon?«
«Er schlägt mich nicht«, widersprach Peggy und wiederholte stur:»Ich bin gegen eine Tür gerannt.«
Kendall trat näher.»Peggy — warum läßt du dir das bieten? Das hast du doch nicht nötig!«
Kurzes Schweigen.»Es ist nötig.«
«Aber wieso denn?«Kendall schaute sie verständnislos an.
«Weil ich ihn liebe. «Und dann strömten die Worte nur so aus ihrem Mund.»Und er liebt mich auch. Glaub mir, er ist nicht immer so. Es ist nur so, daß er… Manchmal ist er eben einfach nicht er selbst.«
«Du meinst, wenn er Drogen genommen hat.«»Nein!«
«Peggy…«
«Nein!«
«Peggy… «
Sie zögerte, bevor sie zugab:»Wahrscheinlich hast du recht.«
«Wann hat das angefangen?«
«Gleich… gleich nach der Hochzeit. «Peggys Stimme klang heiser.»Angefangen hat es nach einem Polospiel. Woody wurde nach einem Sturz vom Pferd schwer verletzt und bekam dann im Krankenhaus starke Schmerzmittel. Die haben ihn auf die Idee gebracht. «Sie schaute Kendall flehentlich an.»Es war also nicht seine Schuld, verstehst du? Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hat er… hat er weiterhin Mittel genommen. Und wenn ich versucht habe, ihn davon abzubringen, hat er… hat er mich jedesmal geschlagen.«
«Um Gottes willen, Peggy! Er braucht Hilfe! Verstehst du das denn nicht? Allein schaffst du's nie. Er ist drogensüchtig. Was nimmt er denn? Kokain?«
«Nein. «Sie blieb einen Augenblick still.»Heroin.«
«O mein Gott! Kannst du ihn nicht so weit bringen, daß er einen Arzt aufsucht?«
«Ich hab's versucht. «Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden.»Du weißt ja nicht, wie oft ich's versucht habe! In drei Rehabilitationskliniken ist er schon gewesen. «Sie schüttelte den Kopf.»Danach geht's eine Zeitlang gut, aber dann… dann fängt er wieder damit an. Er… kann nicht anders.«
Kendall nahm Peggy in die Arme.»Das tut mir ja so leid«, sagte sie.
Peggy rang sich ein Lächeln ab.»Ich bin ganz sicher, daß Woody es irgendwann schafft. Er gibt sich große Mühe, wirklich. «Ihre Miene hellte sich auf.»Am Anfang unserer Ehe war er ein prima Kumpel. Wir haben immer nur gelacht miteinander, und er hat mir kleine Geschenke gemacht und… «
Ihr traten Tränen in die Augen.»Ich hab ihn ja so lieb!«
«Falls ich irgend etwas tun kann…«
«Danke«, flüsterte Peggy.»Das ist sehr nett von dir.«
Kendall ging wieder nach unten. Als wir noch Kinder waren, vor dem Tod unserer Mutter, dachte sie, haben wir uns die Zukunft so schön vorgestellt.»Du wirst eine berühmte Modeschöpferin, Schwester lein, und ich werde einmal der beste Sportler der Welt!«Und was das Traurige an der Sache ist — es wäre möglich gewesen. Und nun das.
Kendall wußte plötzlich nicht mehr, ob sie mehr Mitleid mit Woody oder mit Peggy haben sollte.
Kendall war schon fast unten, als Clark mit einem Brief in der Hand auf sie zukam.»Verzeihung, Miss Kendall, dieser Brief ist eben von einem Boten abgegeben worden. «Er reichte ihr den Umschlag. Kendall blickte überrascht auf.»Wer…«Sie nickte wie geistesabwesend mit dem Kopf.»Danke, Clark.«
Kendall öffnete den Umschlag und erbleichte, als sie den Brief las.»Nein!«stieß sie gepreßt hervor. Ihr Puls raste, ihr wurde schwindlig, und sie mußte sich an einem Tisch festhalten. Sie versuchte tief zu atmen.