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Als sie sich endlich wieder im Griff hatte, ging sie ins Wohnzimmer, wo die Versammlung im Aufbruch begriffen war.

«Marc…«Kendall, kreidebleich, hatte Mühe, ruhig zu wirken.»Könnte ich dich einen Moment sprechen?«

Er schaute sie besorgt an.»Aber gewiß.«

«Geht's dir nicht gut, Kendall?«fragte Tyler.

Sie zwang sich zu einem Lächeln.»Alles in Ordnung, danke.«

Sie nahm Marc an der Hand und ging mit ihm nach oben. Im Schlafzimmer schloß sie die Tür hinter sich ab.

«Was ist los?«wollte Marc wissen.

Kendall reichte ihm den Umschlag. Der Brief lautete:

Liebe Mrs. Renaud,

Glückwunsch! Unser Tierschutzverband war hocherfreut, als wir durch die Zeitung von Ihrem großen Glück erfuhren. Da uns Ihre Anteilnahme für unsere Arbeit bekannt ist, rechnen wir weiterhin mit Ihrer Unterstützung. In diesem Sinne würden wir es gutheißen, wenn Sie innerhalb der nächsten zehn Tage eine Million US-Dollar auf unserem Nummernkonto in Zürich deponieren könnten. Wir sehen Ihrer baldigen Nachricht entgegen.

Wie in allen anderen Briefen auch, war der Buchstabe E beschädigt.

«Die Mistkerle!«schimpfte Marc.

«Wieso haben sie gewußt, daß ich hier bin?«fragte Kendall.

«Dazu brauchten sie doch nur eine Zeitung aufzuschlagen!«antwortete Marc bitter. Kopfschüttelnd las er den Brief noch einmal durch.»Die werden nie aufhören. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Polizei zu verständigen.«

«Nein!«rief Kendall.»Das ist unmöglich, dafür ist es zu spät. Verstehst du denn nicht? Dann wäre alles aus. Alles!«

Marc nahm sie in die Arme.»Ist ja gut. Dann müssen wir eben eine andere Möglichkeit finden.«

Doch Kendall wußte genau, daß es keine andere Möglichkeit gab.

Der Vorfall hatte sich vor einigen Monaten ereignet, an einem — wie es zunächst den Anschein hatte — wundervollen Frühlingstag. Kendall war zur Geburtstagsfeier einer Freundin nach Ridgefield, Connecticut, gefahren. Es war ein sehr schönes Fest geworden, und Kendall hatte sich nach langer Zeit mal wieder mit alten Freundinnen unterhalten können. Sie hatte gerade ein Glas Champagner geleert und plauderte angeregt, als ihr Blick auf die Uhr fiel.»Oje, ich hab gar nicht gewußt, daß es schon so spät ist. Marc erwartet mich.«

Sie hatte sich eiligst verabschiedet, war zu ihrem Auto gerannt, eingestiegen und losgebraust. Unterwegs faßte sie den Entschluß, eine Abkürzung zu nehmen und über eine kurvenreiche Landstraße zu fahren, die zur Route J-864 nach New York führte. Sie fuhr mit etwa achtzig Stundenkilometern, als sie nach einer scharfen Biegung auf der rechten Straßenseite ein parkendes Fahrzeug bemerkte. Kendall riß instinktiv das Steuer nach links, und in diesem Moment überquerte eine Frau mit frisch gepflückten Blumen in der Hand die schmale Fahrbahn. Kendall versuchte verzweifelt, ihr auszuweichen — aber es war zu spät.

Das Folgende erlebte sie wie durch einen Schleier. Kendall hörte einen furchtbaren Aufprall, als sie die Frau mit der linken Stoßstange erfaßte, und brachte den Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Sie zitterte am ganzen Körper, sprang aus dem Wagen und rannte zu der Frau hin, die blutüberströmt auf der Straße lag.

Vor Schreck blieb sie wie angewurzelt stehen. Als sie endlich den nötigen Mut fand, sich bückte und die Frau auf den Rücken drehte, um in ihr Gesicht zu sehen, bemerkte sie die starren Augen.»O mein Gott!«flüsterte Kendall. Hilflos sah sie sich um, wußte nicht, was sie tun sollte — nirgends war ein anderes Auto in Sicht. Sie ist tot, dachte Kendall. Ich kann ihr doch nicht mehr helfen. Es war nicht meine Schuld, aber man wird mir vorwerfen, unter Alkoholeinfluß unvorsichtig gefahren zu sein. Man wird einen Alkoholtest machen, und ich komme ins Gefängnis.

Sie warf noch rasch einen letzten Blick auf die Tote, dann hastete sie zurück zu ihrem Wagen. Die Stoßstange wies vorne links eine Delle auf, außerdem einige Blutflecken. Ich muß den Wagen in die Garage stellen, sagte sich Kendall, weil die Polizei natürlich nach dem Unfallwagen fahnden wird. Sie stieg ein und brauste los.

Während der restlichen Fahrt schaute sie immer wieder in den Rückspiegel, da sie Blaulicht und Polizeisirenen erwartete, bis sie in die Garage an der Ninetysixth Street fuhr und Sam, den Eigentümer, dort im Gespräch mit seinem Kfz-Mechaniker Red bemerkte. Kendall stieg aus.

«'n Abend, Mrs. Renaud«, grüßte Sam.

«Gu… guten Abend. «Sie hatte Mühe, gegen das Zähneklappern anzukämpfen.

«Soll'n wir ihn für die Nacht wegstellen?«

«Ja… Ja, bitte.«

Red musterte die Stoßstange.»Da haben Sie aber eine böse Delle, Mrs. Renaud. Scheint auch Blut dran zu kleben.«

Die beiden Männer wechselten einen vielsagenden Blick.

Kendall holte tief Luft.»Ich… ich habe auf dem Highway ein Reh erwischt.«

«Da können Sie aber von Glück reden, daß der Schaden nicht größer ist«, meinte Sam.»Als neulich einem Freund von mir ein Reh vor den Wagen lief, hatte sein Wagen Totalschaden. «Er lächelte verschmitzt.»Dem Reh ist's aber auch nicht gut bekommen.«

«Wenn Sie ihn für mich parken würden«, bat Kendall.

Sie ging zum Ausgang, schaute sich noch einmal um und sah die beiden Männer in einer angestrengten Begutachtung der Stoßstange vertieft.

Als Kendall zu Hause Marc von dem schrecklichen Unfall berichtete, nahm er sie in die Arme.»O mein Gott, Liebling, wie konnte das…?«

Kendall schluchzte laut auf.»Ich… ich konnte es doch nicht verhindern. Sie ist mir direkt vor den Wagen gelaufen. Sie — sie hatte am Straßenrand einen Blumenstrauß gepflückt und…«

«Psst! Ich bin sicher, daß du keine Schuld hast. Es war ein Unfall. Wir müssen es der Polizei melden.«»Ich weiß. Du hast ja recht. Ich… ich hätte dortbleiben und das Eintreffen der Polizei abwarten sollen. Ich habe… ich habe die Nerven verloren, habe Fahrerflucht begangen. Aber ich hätte nichts mehr für sie tun können, sie war tot. Du hättest ihr Gesicht sehen sollen. Es war furchtbar.«

Er hielt sie in den Armen, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte.

«Marc«, sagte sie dann langsam,»… muß das sein, daß wir zur Polizei gehen?«

Er runzelte die Stirn.»Warum fragst du?«

Sie war einem Nervenzusammenbruch nahe.»Also, vorbei ist vorbei, oder? Sie kann doch nicht wieder lebendig gemacht werden. Ich kann nichts mehr tun. Was würde es ihr nützen, wenn ich bestraft werde? Ich habe es doch nicht absichtlich getan. Warum können wir denn nicht einfach so tun, als ob es nicht passiert wäre?«

«Kendall! Wenn es irgendwann herauskäme…«

«Aber wie denn? Es gab doch keine Augenzeugen.«

«Und was ist mit deinem Wagen? Ist er beschädigt worden?«

«Er hat eine Beule. Dem Garagenwachmann hab ich gesagt, ich hätte ein Reh überfahren. «Sie rang um Selbstbeherrschung.»Den Unfall hat doch niemand gesehen, Marc… Denk mal an die Folgen, falls ich verurteilt würde? Ich würde meine Firma verlieren, ich würde alles verlieren, was ich seit Jahren mühsam aufgebaut habe — und wofür? Wegen etwas, das unwiderruflich geschehen ist. Alles wäre aus. «Sie begann erneut heftig zu schluchzen.

Er drückte sie an sich.»Psst! Warten wir's ab, warten wir's ab.«

Die Morgenzeitungen brachten die Geschichte groß heraus. Was dem Ganzen zusätzlich Tragik verlieh, war die Tatsache, daß die tote Frau nach Manhattan unterwegs gewesen war, um zu heiraten. The New York Times berichtete nur die nackten

Fakten, Daily News und Newsday dagegen bauschten alles zu einer herzzerreißenden Tragödie auf.

Kendall kaufte sämtliche Zeitungen, las sie allesamt, und ihr Entsetzen über die eigene Tat wurde immer größer, und sie dachte ununterbrochen darüber nach, was gewesen wäre, wenn