Wenn ich nicht zum Geburtstag meiner Freundin nach Kentucky gefahren wäre…
Wenn ich an diesem Tag zu Hause geblieben wäre…
Wenn ich keinen Alkohol getrunken hätte…
Wenn die Frau die Blumen nur ein paar Sekunden später gepflückt hätte…
Ich bin für den Tod eines Menschen verantwortlich!
Kendall mußte an das furchtbare Leid denken, das sie den Angehörigen der Toten und ihrem Verlobten zugefügt hatte.
Laut Zeitungsberichten bat die Polizei die Bevölkerung um Hinweise auf alles, was möglicherweise im Zusammenhang mit der Fahrerflucht stehen könnte.
Es besteht keine Möglichkeit, daß sie mir auf die Spur kommen könnten, dachte Kendall. Ich muß mich nur so verhalten, als ob nichts geschehen wäre.
Als Kendall am nächsten Morgen ihren Wagen aus der Garage abholte, war Red allein dort.
«Ich habe das Blut von Ihrem Wagen abgewischt«, erklärte er.»Soll ich auch die Delle beseitigen?«
Natürlich — daran hätte ich wirklich gleich denken müssen! »Ja, bitte.«
Red musterte sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck oder bildete sie sich das nur ein?
«Ich hab mich gestern lang mit Sam über die Sache unterhalten«, bemerkte Red.»Das ist schon komisch, wissen Sie. Ein Reh hätte eigentlich einen viel größeren Schaden verursachen müssen.«
Kendalls Herz begann laut zu pochen. Ihr war der Mund plötzlich wie ausgedörrt, so daß sie kaum mehr reden konnte.»Es war… es war nur ein kleines Reh.«
Red nickte und meinte lakonisch:»Muß wirklich ein sehr kleines Reh gewesen sein.«
Kendall glaubte zu spüren, daß seine Blicke ihr folgten, als sie aus der Garage fuhr.
Im Büro fragte Kendalls Sekretärin Nadine beim Eintreten ihre Chefin besorgt:»Was ist denn mit Ihnen passiert?«
Kendall erstarrte.»Was… wie meinen Sie das?«
«Sie sehen richtig mitgenommen aus. Ich hole Ihnen einen Kaffee.«
«Ja, danke.«
Kendall trat vor den Spiegel. Sie sah blaß und erschöpft aus. Man braucht mich bloß anzuschauen, und man weiß sofort Bescheid!
Nadine kam mit einer Tasse Kaffee zurück.»Hier, das wird Ihnen guttun. «Sie musterte Kendall neugierig.»Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
«Ich… ich hatte gestern einen kleinen Unfall«, erwiderte Kendall.
«Ja? Ist jemand verletzt worden?«
Kendall sah erneut das Gesicht der toten Frau vor sich.
«Nein… Mir ist nur ein Reh vor den Wagen gelaufen.«
«Und was ist mit dem Wagen?«
«Der ist zur Reparatur in der Werkstatt.«
«Ich werde bei der Versicherung anrufen.«
«Ach nein, bitte, Nadine, lassen Sie nur.«
Der erstaunte Blick Nadines war Kendall keineswegs entgangen.
Zwei Tage später war der erste Brief eingetroffen:
Liebe Mrs. Renaud,
ich bin Vorsitzender der Vereinigung zum Schutz der Tiere in freier Wildbahn, die sich in großen finanziellen Schwierigkeiten befindet. Ich bin sicher, daß Sie uns gern helfen möchten. Die Vereinigung benötigt dringend Mittel, um ihre Arbeit fortsetzen zu können. Eines unserer Hauptanliegen gilt dem Reh. Sie können $ 50.000 auf das Konto Nummer 804072-A bei der Schweizer Kreditbank in Zürich überweisen. Ich erlaube mir den ausdrücklichen Hinweis, daß diese Summe binnen der nächsten fünf Tage dort eingehen sollte.
Der Brief war ohne Unterschrift, und er war auf einer Schreibmaschine getippt worden, deren Buchstabe E beschädigt war. In dem Umschlag steckte außerdem ein Zeitungsausschnitt mit der Unfallmeldung. Kendall las den Brief zweimal durch: Die Drohung war unmißverständlich. Marc hat recht gehabt, überlegte Kendall. Ich hätte wirklich zur Polizei gehen sollen. Das Verschweigen hatte alles nur noch viel schlimmer gemacht. Sie hatte Fahrerflucht begangen, und wenn man sie jetzt schnappen würde, mußte sie unweigerlich mit einer Gefängnisstrafe und öffentlicher Schande rechnen — und mit dem Ende ihrer Karriere.
In der Mittagspause suchte sie ihre Bank auf.»Ich möchte gern fünfzigtausend Dollar telegrafisch nach Zürich überweisen… «
Als sie abends nach Hause kam, zeigte sie Marc den Brief.
Er war wie vom Donner gerührt.»Mein Gott!«rief er.»Wer könnte den geschrieben haben?«
«Jemand, der… aber von der Sache weiß doch niemand.«
«Irgend jemand weiß es eben doch, Kendall!«
Sie zuckte zusammen.»Aber die Umgebung des Unfallorts war total menschenleer, Marc! Ich…«
«Moment mal! Laß uns nachdenken. Versuche, dich genau an alles nach deiner Rückkehr in New York zu erinnern.«
«Da war gar nichts. Ich… ich habe den Wagen zur Garage gefahren, und…«Sie brach mitten im Satz ab. »Da haben Sie aber eine böse Delle, Mrs. Renaud, scheint auch Blut dran zu kleben.«
Marc bemerkte den veränderten Gesichtsausdruck seiner Frau.»Was?«
Kendall sagte gedehnt:»Der Garagenwachmann und der Kfz-Mechaniker waren anwesend, als ich den Wagen in die Garage fuhr — die haben das Blut an der Stoßstange bemerkt. Ich habe ihnen erklärt, daß ich ein Reh angefahren hätte, woraufhin sie einwandten, daß dann am Wagen ein größerer Schaden entstanden sein müßte. «Plötzlich kam ihr noch etwas anderes in den Sinn.»Marc…«
«Ja?«
«Nadine, meine Sekretärin. Der habe ich das gleiche erzählt, und ich habe bemerkt, daß sie mir ebenfalls nicht geglaubt hat. Es muß also eine von diesen drei Personen sein.«
«Nein«, widersprach Marc nachdenklich.
Sie starrte ihn überrascht an.»Was soll das heißen?«
«Setz dich, Kendall, und hör mir mal gut zu. Falls einer von diesen dreien Verdacht geschöpft hat, so wäre es durchaus möglich, daß er die Geschichte einem ganzen Dutzend anderer Menschen weitererzählt hat. Und über den Unfall selbst haben immerhin alle Zeitungen berichtet. Vermutlich hat irgend jemand einfach kombiniert. Obwohl ich persönlich ja der Ansicht bin, daß der Brief nur Bluff ist — ein Versuchsballon. Es war ein böser Fehler von dir, das Geld zu überweisen.«
«Aber wieso denn?«
«Weil die Person, die den Brief geschrieben hat, jetzt ganz genau weiß, daß du schuldig bist — daß du die Tat begangen hast. Verstehst du? Du hast ihm damit den fehlenden Beweis geliefert.«
«O mein Gott! Was soll ich nur machen?«jammerte Kendall.
Marc Renaud schwieg eine Weile und überlegte.»Ich habe da eine Idee, wie wir herausfinden können, wer dahintersteckt.«
Am nächsten Morgen saßen Kendall und Marc um zehn Uhr in der First Manhattan Security Bank dem stellvertretenden Direktor gegenüber.
«Was kann ich für Sie tun?«fragte Mr. Russell Gibbons die beiden.
«Wir möchten Sie bitten«, antwortete Marc,»ein
Nummernkonto in Zürich zu überprüfen.«
«Ja?«
«Wir hätten gern den Namen des Kontoinhabers erfahren.«
Gibbons rieb sich verlegen das Kinn.»Besteht da ein Zusammenhang mit einer kriminellen Tat?«
«Nein!«erwiderte Marc schnell.»Aber wieso fragen Sie?«
«Nun ja, es müßte schon ein krimineller Tatbestand vorliegen, also Geldwäsche oder ein Vergehen gegen Schweizer oder amerikanische Gesetze, sonst wird die Schweiz das Geheimnis eines dortigen Nummernkontos nie preisgeben. Die Reputation der Schweizer Banken beruht auf Verschwiegenheit.«
«Aber es muß doch eine Möglichkeit geben…«
«Bedaure, leider nicht.«
Kendall und Marc wechselten einen fragenden Blick. Kendalls Gesicht verriet Verzweiflung.
Marc erhob sich.»Ich danke Ihnen, daß Sie sich für uns Zeit genommen haben.«
«Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen konnte. «Er begleitete sie zur Tür.
Als Kendall abends ihren Wagen in die Garage fuhr, waren weder Sam noch Red zu sehen. Nachdem sie den Wagen abgestellt hatte, bemerkte sie auf einem Tischchen in dem winzigen Büroraum eine Schreibmaschine. Kendall blieb stehen und fragte sich, ob an dieser Maschine womöglich der Buchstabe E defekt wäre. Ich muß es herauskriegen, dachte sie. Sie ging zum Eingang des Büros, zögerte kurz vor der Tür, trat dann aber doch ein und wollte sich eben der Schreibmaschine nähern, als wie aus dem Nichts Sam auftauchte.