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Henry Wessen war Chef einer Steuerkanzlei mit Büros im gleichen Gebäude wie Peters, Eastman & Tolkin. Julia begegnete ihm zwei- oder dreimal wöchentlich morgens im Aufzug. Er wirkte recht zivilisiert — ein Mann Mitte Dreißig, mit hellblondem Haar und einer Brille mit dunklem Gestell, der in seiner Bescheidenheit einen intelligenten Eindruck machte.

Anfangs grüßten sie sich mit höflichem Kopfnicken, später mit einem» Guten Morgen«, und dann sagte er:»Heute sehen Sie aber besonders hübsch aus«, und nach einigen Monaten kam die Frage:»Ich frage mich, ob Sie nicht vielleicht mit mir ausgehen würden?«Er musterte sie gespannt und wartete auf eine Antwort.

Julia lächelte.»Warum nicht.«

Was Henry betraf, so war es Liebe auf den ersten Blick. Beim ersten Rendezvous führte er Julia ins EBT, eines der besten Restaurants von Kansas City. Ein klares Zeichen, daß ihm die Verabredung viel bedeutete.

Er erzählte ihr ein wenig von sich.»Ich bin hier im guten alten Kansas City zur Welt gekommen, wie schon mein Vater. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Julia verstand ihn nur zu gut.

«Ich habe schon immer Steuerberater werden wollen, und gelernt habe ich gleich nach dem Schulabschluß bei der Bigelow & Benson Financial Corporation. Heute habe ich meine eigene Firma.«

«Wie schön für Sie«, sagte Julia.

«Mehr gibt es über mich eigentlich nicht zu erzählen.

Erzählen Sie doch etwas von sich.«

Julia dachte kurz nach. Ich bin die uneheliche Tochter von einem der reichsten Männer der Welt. Sie haben bestimmt schon von ihm gekört. Er ist kürzlich im Mittelmeer ertrunken. Ich bin eine vermögende Erbin. Ihr Blick glitt durch den eleganten Raum. Ich könnte dieses Restaurant kaufen, wenn ich wollte. Wenn ich wollte, könnte ich wahrscheinlich die ganze Stadt kaufen.

Henry musterte sie besorgt.»Julia?«

«Oh!.. Verzeihung. Ich wurde in Milwaukee geboren. Mein… Vater ist früh gestorben, ich war noch ein Kind. Ich bin dann mit meiner Mutter viel im Lande herumgezogen. Nach ihrem Tod habe ich mich entschlossen, hierzubleiben und eine Stellung zu suchen.«Hoffentlich kriege ich jetzt vom Lügen keine dicke Nase, die mich verrät.

Henry Wesson berührte ihre Hand.»Da hat es also in Ihrem Leben nie einen Mann gegeben, der Sie umsorgte. «Er beugte sich vor und sagte mit ernster Stimme:»Ich würde gern immer für Sie sorgen.«

Julia musterte ihn erstaunt:»Ich möchte ja nicht klingen wie Doris Day — aber wir kennen uns doch kaum.«

«Dabei darf es nicht bleiben.«

Zu Hause wurde Julia sofort von der wartenden Sally in Empfang genommen.»Nun?«fragte sie.»Wie ist es gelaufen?«

«Er ist sehr lieb«, sagte Julia gedehnt, nachdenklich,»und…«

«Er hat sich gleich in dich verliebt!«

Julia lächelte.»Ich glaube, er hat mir einen Heiratsantrag gemacht.«

Sally sah sie mit großen Augen an.»Du glaubst, daß er dir einen Heiratsantrag gemacht hat? Mein Gott — hat er dir nun einen Heiratsantrag gemacht oder nicht? So was weiß man doch!«»Na ja, er hat gesagt, daß er immer für mich sorgen möchte.«

«Das ist ein Heiratsantrag!«rief Sally.»Und ob das ein Heiratsantrag ist! Heirate ihn! Schnell! Bevor er sich's anders überlegt.«

Da mußte Julia lachen.»Aber warum solche Eile?«

«Hör auf mich. Lade ihn hier in der Wohnung zum Abendessen ein, das Kochen übernehm’ ich — aber du kannst ihm ruhig sagen, daß es dein Werk ist.«

Julia prustete los.»Ich danke dir. Trotzdem: Nein. Wenn ich den Mann gefunden habe, den ich heiraten möchte, wird's zu Abend vielleicht eine chinesische Fertigmahlzeit aus Pappkartons geben, aber der Tisch, das darfst du mir glauben, der wird mit Blumen und Kerzen geschmückt sein.«

«Wissen Sie«, meinte Henry bei der nächsten Verabredung,»Kansas City ist eine absolute ideale Stadt, um Kinder großzuziehen.«

«Ja, das stimmt. «Das Problem bestand nur darin, daß Julia nicht überzeugt war, Kinder von ihm haben und großziehen zu wollen. Er war ein zuverlässiger Mensch, ein nüchterner, anständiger Kerl, aber…

Sie sprach darüber mit Sally.

«Er bittet mich immer wieder, seine Frau zu werden!«

«Und wie findest du ihn?«

Julia dachte kurz nach, sie suchte nach den liebevollsten und gefühlvollsten Attributen, die ihr zu Henry einfielen.»Er ist zuverlässig, realistisch, anständig… «

Sally sah ihr fest in die Augen.»Mit anderen Worten — er ist langweilig.«

«Nicht gerade langweilig…«, widersprach Julia abwägend.

Sally nickte.»Er ist langweilig. Heirate ihn.«

«Wie bitte?!«

«Heirate ihn. Anständige gute Ehemänner sind nämlich gar nicht leicht zu finden.«

Von einer Gehaltsauszahlung zur nächsten war es jedesmal ein schrecklicher Hürdenlauf. Wenn, nach den obligaten Abzügen, Miete, Autokosten, Lebensunterhalt und Kleiderkäufe bezahlt waren, blieb kaum mehr etwas übrig. Julia besaß einen Toyota Tercel, der mehr Kosten verursachte als sie selbst. Sie mußte immer wieder Sally anpumpen.

Als Julia sich eines Abends fürs Ausgehen zurechtmachte, fragte Sally:»Ein weiteres großes Rendezvous mit Henry, wie? Wohin nimmt er dich heute abend mit?«

«Wir gehen in die Symphony Hall, zu einem Konzert von Cleo Laine.«

«Hat der gute alte Henry dir wieder einen Heiratsantrag gemacht?«

Julia zögerte, denn es war so, daß Henry ihr bei jedem Zusammensein von neuem einen Heiratsantrag machte. Sie fühlte sich von ihm bedrängt, konnte sich aber nicht dazu bringen, ja zu sagen.

Vermutlich hat Sally recht, überlegte Julia. Henry Wessen würde einen guten Ehemann abgeben. Er ist… Sie hielt inne. Er ist realistisch, verläßlich, anständig… Aber reicht das?

Julia war schon an der Tür, als ihr Sally nachrief:»Darf ich mir für heute abend deine schwarzen Schuhe ausborgen?«

«Natürlich. «Und damit war Julia verschwunden.

Sally ging in Julias Schlafzimmer und öffnete die Schranktür. Das gewünschte Paar Schuhe stand auf dem obersten Regal. Als sie danach griff, fiel ein Karton herunter, der ziemlich weit vorne auf dem Regal gestanden hatte, und der Inhalt verstreute sich über den ganzen Fußboden.

«Verdammt!«Sally bückte sich, um die Papiere aufzusammeln: Zeitungsausschnitte, Fotos und Artikel, die allesamt mit der Familie Harry Stanfords zu tun hatten.

Da stürzte plötzlich Julia ins Zimmer und rief:»Ich habe ganz vergessen, meine…«Beim Anblick der Papiere auf dem Boden brach sie ab.»Was machst du da?«

«Tut mir leid«, entschuldigte sich Sally.»Der Karton ist vom Regal gefallen.«

Julia errötete verlegen und begann hastig die Papiere wieder in den Karton zurückzulegen.

«Ich habe gar nicht gewußt, daß du dich für die Reichen und Berühmten dieser Welt interessierst«, meinte Sally.

Schweigend legte Julia die Papiere und Fotos in den Karton. Als sie einen Stapel Fotos hochhob, stieß sie auf ein kleines, herzförmiges Medaillon, das ihr die Mutter auf dem Totenbett übergeben hatte, und legte es zur Seite.

Sally musterte sie ratlos.»Julia?«

«Ja?«

«Was interessiert dich eigentlich so an Harry Stanford?«

«Mich? Gar nichts. Diese Sachen haben meiner Mutter gehört.«

Sally zuckte mit den Schultern.»Na schön. «Sie griff nach einem Stück Papier, das aus einer Zeitschrift herausgerissen worden war. Die Schlagzeile war ihr aufgefallen:

WIRTSCHAFTSKAPITÄN SCHWÄNGERT GOUVERNANTE SEINER KINDER — AUSSEREHELICHES BABY GEBOREN — MUTTER UND KIND SPURLOS VERSCHWUNDEN!

Sally blieb der Mund offenstehen. Sie starrte Julia an:»O mein Gott! Du bist die Tochter von Harry Stanford!«

Julia preßte die Lippen zusammen, schüttelte den Kopf und sammelte den Rest der Papiere ein.