Der Zauberer blickte zu ihr zurück. Er schwieg, aber Tyrande merkte ihm an, dass ihn ihre Worte berührt hatten. Schließlich antwortete Dath’Remar nach langem Zögern: »Ich werde versuchen, dir beim nächsten Mal etwas Wohlschmeckenderes mitzubringen, Mistress Tyrande.«
»Möge dich Mutter Mond segnen, Dath’Remar Sunstrider.«
Der Nachtelf neigte den Kopf, dann verließ er die Zelle. Tyrande wartete, bis seine Schritte verklungen waren. Sie nahm an, dass die Wachen sie in Augenschein nehmen würden, aber die Männer nahmen nur wieder ihre Positionen vor der Tür ein.
Zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme erlaubte sich Tyrande Whisperwind ein Lächeln.
11
Für einen Orc gab es nichts Heiligeres als Blut. Sie schworen damit Eide, schmiedeten Allianzen, ein Krieger in der Schlacht wurde davon gestählt. Blutsbande zu beschmutzen galt als eines der verachtenswertesten Verbrechen.
Doch der Bruder des Druiden hatte genau das getan.
Brox betrachtete Illidan Stormrage mit einer Abscheu, die er nur wenigen Wesen entgegenbrachte. Sogar die Dämonen respektierte er in gewisser Weise, denn sie folgten nur ihrer Natur, egal, wie pervers und böse sie auch sein mochte. Aber hier stand jemand, der Seite an Seite mit Brox gekämpft hatte und der als Malfurions Zwillingsbruder dessen Zuneigung und Sorge für seine Kameraden hätte teilen sollen. Doch Illidan lebte nur für die Macht. Sogar seine engste Verwandtschaft konnte daran nichts ändern.
Wären seine Arme nicht gefesselt gewesen, der Orc hätte sein eigenes Leben geopfert, wenn es ihm auf diese Weise gelungen wäre, den Zauberer zu töten. Der Orc wusste, dass er selbst manchen Fehler hatte, doch verraten … verraten hatte er noch niemanden.
Malfurion stolperte neben dem ergrauten Krieger her. Man hatte ihnen die Arme hinter dem Rücken gefesselt und Seile um ihre Hüften geschlungen, an denen sie hinter den Nachtsäblern hergezogen wurden. Sie konnten kaum mithalten. Illidans Bruder hatte es noch schlimmer getroffen, denn sein verräterischer Zwilling hatte den Blindheitszauber nicht zurückgenommen. Malfurions Augen wurden von schwarzen Schatten bedeckt, die kein Licht hindurch ließen. Er stolperte und stürzte, hatte Schürf- und Schnittwunden. Einmal hätte er sich sogar beinahe den Kopf an einem Felsen aufgeschlagen.
Der Zauberer, der einen Schal vor den Augen trug, zeigte kein Mitleid. Wenn Malfurion strauchelte, zog Illidan nur an seinem Seil, bis sich der Druide wieder aufrichtete. Die Wachen, die hinter den Gefangenen hergingen, stießen sie daraufhin an, und alles begann wieder von vorne.
Brox betrachtete seine Axt, die am Sattel von Captain Varo’thens Katze hing. Der Orc hatte den vernarbten Offizier als das zweite wichtige Ziel ausgemacht, sollte es ihm und Malfurion gelingen, sich zu befreien. Die Dämonenkrieger waren zwar gefährlich, aber ihnen fehlte die teuflische Verschlagenheit, die Brox bei dem anderen Nachtelf bemerkte. In dieser Hinsicht konnte sogar Illidan nicht mithalten. Brox war das egal. Wenn die Geister ihm mit ihrem Segen beistanden, würde er beide töten.
Danach musste man sich um die Dämonenseele kümmern.
Überraschenderweise trug nicht Illidan die Scheibe. Er hatte sie zwar aufgenommen, aber nur wenige Minuten später hatte der Captain seine Hand ausgestreckt und sie eingefordert. Zur großen Verwunderung des Orcs hatte Malfurions Bruder nicht protestiert, sondern die Scheibe ohne Zögern losgelassen.
Doch solche Überraschungen interessierten den grünhäutigen Krieger nicht. Ihm war nur klar, dass er die beiden töten und die Dämonenseele an sich nehmen musste. Um dahin zu kommen, musste sich der Orc jedoch erst einmal befreien und die Dämonen niederstrecken, die ihn und Malfurion bewachten.
Brox schnaufte enttäuscht. Den Helden in den Epen gelangen solche Dinge immer, aber er bezweifelte, dass sie ihm gelingen würden. Captain Varo’then wusste, wie man eine Fessel anlegte. Er hatte seine Gefangenen gut gesichert.
Wortlos zogen sie weiter. Das Nest des schwarzen Drachens lag bereits weit hinter ihnen. Allerdings fühlte sich Brox nicht so sicher, wie es Illidan und der Captain taten. Er war überzeugt, dass Deathwing sie finden würde. Es grenzte an ein Wunder, dass der schwarze Gigant noch nicht aufgetaucht war. War er von etwas abgelenkt worden?
Seine Augen weiteten sich, und er verfluchte seine Dummheit. Natürlich war er nicht von etwas abgelenkt worden, sondern von jemandem – von Krasus.
Brox verstand, welches Opfer der Magier möglicherweise brachte. Weiser Mann, ich wünsche dir alles Gute. Ich werde von dir singen … bis zu meinem nicht allzu fernen Tod.
»Umpf.«
Neben Brox stürzte Malfurion erneut. Dieses Mal gelang es dem Druiden jedoch, sich zu drehen. Er fiel nicht auf sein Gesicht, sondern auf die Seite. So entging er zwar einer blutigen Nase, aber der Sturz schüttelte trotzdem jeden Knochen in seinem Körper durch.
Der Orc hätte dem Nachtelf gern geholfen, doch das ging nicht. Durch zusammengebissene Zähne sagte er zu Illidan: »Gib ihm sein Augenlicht zurück. Dann wird er auch schneller gehen.«
»Sein Augenlicht? Wieso sollte ich?«
»Die Bestie hat Recht«, unterbrach Captain Varo’then. »Dein Bruder hält uns nur auf. Entweder schneide ich ihm hier und jetzt die Kehle durch oder du gibst ihm seine Augen zurück, damit er den Pfad sehen kann.«
Illidan lächelte ironisch. »Was für eine interessante Alternative. Na gut, bringt ihn her.«
Zwei Dämonen stießen Malfurion mit ihren Waffen vorwärts. Der Druide hielt sich so aufrecht wie möglich und trat seinem Zwilling ruhig entgegen.
»Von meinen Augen zu deinen«, murmelte Illidan. »Ich gebe dir, was ich nicht mehr benötige.«
Er schob den Schal nach oben.
Die Haare im Nacken des Orcs stellten sich auf, als er sah, was sich darunter befand. Brox schickte ein Stoßgebet zu den Geistern. Sogar der monströse Wächter neben ihm wirkte nervös.
Die Schatten verschwanden von Malfurions Augen. Er blinzelte, dann sah er Illidan an. Das Entsetzen, das er bei diesem Anblick verspürte, zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
»Oh, Illidan …«, stieß Malfurion hervor. »Es tut mir so Leid.«
»Weshalb?« der Zauberer legte den Schal wieder über seine Augenhöhlen. »Ich habe jetzt etwas viel Besseres. Ein Augenlicht, von dem du nur träumen kannst. Ich habe nichts verloren, verstehst du mich? Nichts!« An den Offizier gewandt fuhr Illidan fort. »Jetzt kann er mithalten. Wahrscheinlich können wir das Tempo sogar erhöhen.«
Varo’then lächelte und gab den Befehl zum Aufbruch.
Malfurion stolperte auf den Orc zu. Brox half dem Nachtelf, seinen Rhythmus zu finden, dann murmelte er: »Es tut mir Leid wegen deines Bruders …«
»Illidan hat seinen Weg gewählt«, antwortete der Druide sanfter, als Brox es an seiner Stelle getan hätte.
»Er hintergeht uns!«
»Tut er das?« Malfurion starrte auf den Rücken seines Bruders. »Tut er das?«
Der Orc schüttelte den Kopfüber das Wunschdenken seines Begleiters und trottete schweigend weiter. Durch den alternden Tag zogen sie dahin. Ihre Wächter schienen sich keine Sorgen zu machen, aber Brox blickte immer wieder zurück zu den Bergen, erwartete jeden Moment, Deathwing zu sehen.
»Zauberer«, sagte der vernarbte Offizier nach mehr als einstündigem Schweigen. »Diese Scheibe kann all das, was du uns versprochen hast?«
»All das und noch mehr. Du weißt, was sie der Legion und den Nachtelfen angetan hat … und sogar den Drachen.«
»Ja.« Der Orc hörte die Bewunderung in Varo’thens Stimme. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Hand des Captains ständig über die Gürteltasche strich, in der sich die Scheibe befand. »Das stimmt also alles?«
»Frag Archimonde, wenn du möchtest.«
Varo’then zog seine Hand zurück. Der Verstand des Soldaten war noch klar genug, dass er den großen Dämon fürchtete.
»Ihre Macht sollte ausreichen, um das Portal nach Sargeras’ Wünschen zu gestalten«, fuhr Illidan fort. »Dann kann der Rest der Legion nach Kalimdor gebracht werden … und Sargeras wird sie anführen.«