Klaudines Blicke kehrten wie aus tiefen Träumen in die Gegenwart zurück. Die Stimme der Herzogin hatte sie geweckt, und so bang und tränenschwer waren diese Blicke, daß die fürstliche Frau verstummte; aber eine zaghafte Hand griff nach der des Mädchens und hielt sie fest.
»Ach, ich vergaß, daß es Sie traurig machen muß, fremde Menschen in Ihrem Vaterhause zu sehen.«
Es klang so innig, so weich, und Klaudine wandte den Kopf, um die Tränen zurückzudrängen, die ihre Augen verschleierten.
»Weinen Sie doch, es erleichtert«, sagte die Herzogin einfach.
Klaudine schüttelte den Kopf und bemühte sich gewaltsam, ihre Fassung wiederzugewinnen, doch wollte es ihr nicht recht gelingen. Was tobte und stürmte nicht alles in ihrer Seele, und nun auch noch die Güte dieser Frau!
»Verzeihung, Hoheit, Verzeihung!« stieß sie endlich hervor. »Gestatten Hoheit, daß ich mich bald zurückziehe. Ich fühle, ich kann heute nicht die Gesellschaft sein, die Hoheit wünschen.«
»O nimmermehr, meine liebe Klaudine! Ich lasse Sie nicht! Denken Sie, ich vermöchte Sie nicht zu verstehen? Mein liebes Kind, auch ich habe heute schon geweint.« Und der erregten leidenschaftlichen Frau lief eine stille Träne um die andere über das fieberheiße Gesicht. »Ich habe einen traurigen Tag heute«, sprach sie weiter, »ich fühle mich so krank, ich muß immerfort ans Sterben denken, mir kommt das schreckliche Erbbegräbnis unter der Schloßkirche unserer Residenz nicht aus dem Sinn, und dann denke ich an meine Kinder und an den Herzog. Warum muß man solche Gedanken haben, wenn man noch so jung ist und so glücklich wie ich? O, sehen Sie mich nur an, liebste Klaudine, ich bin glücklich – bis auf meine Krankheit. Ich habe einen Gatten, dem ich über alles teuer bin, und so liebe, liebe Kinder, und doch diese schwarzen, diese schrecklichen Beängstigungen! Mir wird heute das Atmen so schwer.«
»Hoheit«, sagte das junge Mädchen bewegt, »es ist die schwüle Luft.«
»O, natürlich! Ich bin nervös, und es geht vorüber, ich weiß es. Seit Sie hier sind, ist es auch schon besser. Kommen Sie nur oft, recht oft! Ich will Ihnen gestehen, meine liebe Klaudine, ich hege, seit ich Sie gesehen, ein so großes Verlangen, Sie in meiner Umgebung zu haben. Mama war aber selbst so entzückt von Ihnen, daß sie nichts von einer Trennung wissen wollte. Ich kann es ihr ja auch nicht verdenken. Der Herzog selbst bat für mich, aber sie schlug es rund ab.«
Klaudine rührte sich nicht, nur ihre Augen senkten sich, und ihr Antlitz überflog einen Augenblick eine Purpurglut.
»Es ist wunderbar, die gute Mama versagt mir sonst nichts! Ja, und nun, liebe Klaudine, komme ich zu meiner Bitte: Bleiben Sie bei mir, wenigstens für die Zeit unseres hiesigen Aufenthaltes!«
»Hoheit, es ist unmöglich!« stieß Klaudine fast schroff hervor. Und wie flehend setzte sie hinzu: »Mein Bruder, Hoheit, sein Kind!«
»O, ich lasse das gelten, aber Sie müssen mindestens einige Stunden täglich für mich erübrigen, Klaudine, ein paar Stunden nur! Geben Sie mir die Hand darauf. Nur ein paar Lieder dann und wann! Sie wissen gar nicht, wie wohl mir wird bei Ihrem Gesang.«
Das schmale fiebernde Gesichtchen der fürstlichen Frau beugte sich vor, und die unnatürlich glänzenden Augen schauten bittend in die des Mädchens. Es sprach eine so rührende Mahnung an das verlöschende Leben aus diesem Antlitz. Warum mußte diese Frau so bitten? Und was erbat sie sich von ihr? Wenn sie ahnen könnte – aber nein, sie durfte es nicht ahnen!
»Hoheit!« stammelte Klaudine.
»Nein, nein! So leicht bin ich nicht abzuweisen, ich wünsche mir eine Freundin und eine edlere, bessere, treuere als Sie, Klaudine, finde ich nicht. Warum lassen Sie mich so bitten?«
»Hoheit!« wiederholte das Mädchen überwältigt und beugte sich auf die Hand, die noch immer die ihre hielt. Aber die Herzogin hob ihr Gesicht empor und küßte sie auf die Stirn.
»Meine liebe Freundin!« sagte sie.
»Hoheit! Um Gottes willen, Hoheit!« zitterte es durch das Gemach. Aber die Herzogin hörte es nicht, sie hatte den Kopf der alten Kammerfrau zugewandt, die meldete, daß der Herzog mit den Herren im Salon neben dem Spielzimmer soupieren werde, und fragte, wo Ihre Hoheit zu speisen befehle.
»Im kleinen Salon hier oben«, befahl die Herzogin, und enttäuscht blickte sie Klaudine an. »Ich hatte mich doch so gefreut auf den heutigen Abendtisch! Wir hätten eine so nette Partie Karree gehabt, der Herzog, Ihr Vetter und wir!« Und scherzend fügte sie hinzu: »Ja, ja, meine liebe Klaudine, wir armen Frauen müssen das Herz unserer Männer immer noch mit einigen Passionen teilen, die Jagd und das L'hombre, sie haben mir schon manche Träne ausgepreßt, aber – wohl der Frau, die nicht um ein Mehr zu weinen braucht!«
Es wurde neun Uhr, bevor Klaudine die Erlaubnis erhielt heimzufahren. Als sie, von der Kammerfrau der Herzogin geleitet, die breite, wohlbekannte Treppe hinunterschritt, begegnete ihr ein Diener mit zwei silbernen wappengeschmückten Champagnerkühlern. Sie wußte, daß Seine Hoheit kleine Spielpartien liebte mit sehr viel Sekt und sehr viel Zigaretten, man saß dort oft, bis der Morgen graute. Gott sei Dank, daß es auch heute so war!
Auf leisen Sohlen huschte Klaudine vollends die mit einem Purpurteppich belegten Stufen hinuter. Am Eingang stand der alte Diener ihres Vaters, Friedrich Kern, jetzt in herzoglicher Livree, und sein ehrliches Gesicht zog sich vor Freude in tausend Falten. Sie nickte ihm freundlich zu und eilte hinaus. Mit einem erleichternden Aufatmen sank sie in die seidenen Kissen des Wagens. Sie hatte sich gefürchtet wie ein Kind, es könne ihr noch jemand auf dem Korridor, auf der Treppe entgegentreten, jemand! Nein, Gott sei Dank, sie saß allein in dem fürstlichen Wagen, und der Wagen trug sie ihrer Heimat zu. Oh, niemals hatte sie eine solche Sehnsucht nach dem einfachen kleinen Stübchen empfunden wie heute. Eine Weile überließ sie sich dem Gefühl, ohne zu denken, dann öffnete sie plötzlich das Fenster und fuhr sich über die Stim. Dieser Duft der parfümierten Wagenkissen machte alte peinvolle Erinnerungen aus der Residenz lebendig. Es war das Lieblingsparfüm des Herzogs. Sie ballte plötzlich die Hand, und alles Blut strömte ihr zum Kopfe.
Sie öffnete auch noch das andere Fenster und saß im Zugwind, den die rasche Fahrt schuf, die Lippen aufeinandergepreßt und tränenfunkelnden Auges. Sie war doch wieder über diese Schwelle gegangen, gezwungen worden, darüber hinwegzutreten! Was hatte ihr die Flucht genützt? Nichts! Gar nichts! Wollte er sein Wort wahr machen, er werde sie überall zu finden wissen?
Die Gedanken verwirrten sich hinter ihrer Stirn, sie kam sich schlecht vor. Hätte sie nicht die Hand der fürstlichen Frau zurückweisen müssen, so schroff, wie Beate es getan hatte? Ach, Beate! Wie schritt die so eben und klar ihren Weg! Und da schimmerten eben die Fenster des Neuhäuser Wohnhauses aus dem Geäste der Linden, eine plötzliche Sehnsucht nach der aufrichtigen, schlichten Weise ihrer Cousine erfaßte sie. Sie zog die seidene Schnur, die um den Arm des Dieners befestigt war, und befahl, nach dem Neuhäuser Schlosse zu fahren.
In dem weiten Hausflur kam just Beate daher, das klirrende Schlüsselbund in der Hand und hinter sich ein Mädchen, das einen Stoß frisch aus dem Spinde genommenen Leinenzeugs trug.