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Nun war der Würfel gefallen, was sie gesagt hatte, das tat sie, und sie tat das Rechte.

Sie beugte sich vor. Gottlob, dort schimmerte das Licht aus Joachims Fenster. Nun hielt der Wagen und der Schlag wurde aufgemacht. Baron Gerold sprang hinaus und bot ihr die Hand zum Aussteigen. Sie übersah es und ging der Pforte zu. Mit einer stolzen Wendung des Kopfes streifte sie ihn noch einmal, und da glaubte sie beim Scheine der Laterne, die der alte Heinemann mit hocherhobener Hand hielt, zu sehen, daß er ihr mit einem bekümmerten Ausdruck nachschaute. Aber das war wohl nur Einbildung gewesen.

Sie kam fast atemlos in das Haus, und hinter sich hörte sie das Rollen des Wagens, mit dem er nach Neuhaus zurückkehrte.

»Sie schlafen schon alle«, wisperte der alte Mann, indem er seiner Herrin die Treppe hinaufleuchtete, »nur der gnädige Herr arbeiten noch. Die Kleine hat bei Fräulein Lindenmeyer gespielt, und dann haben wir Erdbeeren mit Milch gegessen, es ging alles wunderschön. Das gnädige Fräulein brauchen gar nichts mehr zu tun, von Rechts wegen.«

Sie nickte ihm zu mit ihrem ernsten, blassen Gesicht und schloß die Tür ihres Stübchens hinter sich. Dort sank sie auf den ersten besten Stuhl und schlug die Hände vor das Gesicht. So saß sie lange, lange.

»Er ist nicht besser als die anderen«, sagte sie endlich und schickte sich an zu Bette zu gehen, »auch er glaubt nicht mehr an Frauenehre, an Frauenreinheit!«

Was hatte sie ihr genutzt, ihre Flucht? Glaubte nicht gerade er das schlimmste von ihr? Sein Lächeln, die Reden heute abend hätten es ihr gezeigt, auch, wenn sie es nicht schon längst gewußt hätte. Oh, die ganze Welt mochte denken von ihr, was sie wollte, wenn nur ihr Herz, ihr Gewissen rein blieb! Sie allein würde dafür sorgen, daß sie den Blick nicht niederzuschlagen brauchte.

Sie preßte die Lippen aufeinander. Wohl, sie würde ihm zeigen, daß eine Gerold selbst den trübsten, schlammigsten Weg zu gehen vermag, ohne sich auch nur die Schuhsohlen zu beschmutzen!

Sie erhob sich, zündete Licht an und blickte sich in ihrem Stübchen um; wie sah es hier aus! Die Spuren ihrer in Unordnung geratenen Gedanken zeigten sich erschreckend deutlich in dem sonst so zierlichen Raum, dort die Schranktür weit geöffnet, auf der Kommode Schleifen, Nadeln, Kämme in wirrem Durcheinander, verschiedene Kleider auf Betten und Stühlen, alles spiegelte so klar die Stunde der Unentschlossenheit wieder, die sie durchlebt hatte, ehe sie nach Altenstein fuhr. Sie wollte nicht, nein, sie wollte nicht gehen und fand doch nicht den Mut, sich mit einer Lüge entschuldigen zu lassen. Draußen hatten die Pferde ungeduldig gescharrt vor dem fürstlichen Wagen und eine Viertelstunde nach der anderen war verstrichen, bis Joachim zuletzt kam: »Aber, Schwester, bist du noch nicht fertig?«

Da war sie gegangen.

Sie begann aufzuräumen. Wie erleichtert atmete sie auf, als wieder Ordnung um sie herrschte. Ja, es war nun überhaupt alles geordnet, sie selbst hatte die Entscheidung getroffen in einem Augenblick des Zornes, des bittersten Wehes. Aber war es wirklich das Rechte?

10.

Frau von Berg saß in ihrem Zimmer im Neuhäuser Schlosse am Schreibtisch. Die Tür zum Nebenraum stand offen, dort wohnte das Kind mit einer Wärterin. Vor den Fenstern rauschte der Regen hernieder und winkten die nassen Zweige der Linden. Die Dame hatte sich in ein dickes wollenes Tuch gehüllt und schrieb. Die Erregung mochte wohl ihre Feder führen, denn diese jagte förmlich über das starke cremefarbige Papier und die Buchstaben waren so merkwürdig klein und flüchtig.

Sie war außerordentlich schlechter Laune, und als eben Beates laute Stimme vom unteren Hausflur bis hier herauf scholl, machte sie eine Faust und sah zornfunkelnd zur Tür hinüber. Wer stand ihr denn dafür, daß dieser Hausdrache nicht, kraft seines Amtes, wieder einmal bei ihr eindrang, um sich zu überzeugen, ob alles in Ordnung sei hier oben? Und das schlimmste blieb, daß man hier so machtlos war. Der Baron hatte ja kaum noch Augen für sein Töchterlein, und wo diese Augen waren, das wußte sie nur zu genau. Gestern abend hatte er sie ja noch bei Nacht und Nebel nach dem Eulenhause begleitet!

Sie blickte durchs Fenster, dann nickte sie, als ob ihr etwas besonderes einfiele, und schrieb weiter:

»Ich habe bereits gestern Prinzeß Thekla in meinem wöchentlichen Bericht über das Befinden ihres Enkelkindes verschiedene Andeutungen gemacht, die Prinzeß Helene in einen ihrer bekannten Wutanfälle versetzt haben werden. Es ist kaum glaublich, wie sehr diese junge Dame zur Eifersucht neigt. Nun, ich erzählte Ihnen ja öfter davon.

Übrigens, mein bester Palmer, hörte ich gestern abend im Vorübergehen an dem Wohnzimmer – ich kam aus der Plättstube, wo ich einen Wortwechsel mit dem Hausmädchen hatte – Sie glauben nicht, wie man sich ärgern muß in diesem gottbegnadeten Musterhaushalt, wenn man einmal etwas außergewöhnliches verlangt – ich hörte also im Vorübergehen, wie das Gänschen, genannt Schwan, ihrem allergetreuesten Verehrer mit erhobener Stimme erklärte, daß sie die Absicht habe, jeden Tag nach Altenstein zu pilgern! Somit hätte sich ja Ihre Prophezeiung als wahr erwiesen. Wie sagten Sie doch noch? ›Es gibt kein besseres Mittel, einen schüchternen Liebhaber um den letzten Rest gesunder Vernunft zu bringen, als ein wenig Versteck mit ihm zu spielen.‹ Sie sagen freilich, der Herzog ist abgekühlt, um so besser! Erlauben Sie mir aber, vorläufig noch einige geringe Zweifel an dieser Abkühlung zu hegen, ich glaube den Allergnädigsten besser zu kennen.

Morgen hoffe ich Sie zu sehen. Fräulein Beate hat nämlich großes Reinmachen angesagt. Sie pflegt sich dabei ein weißes Kopftuch umzubinden und mit einem langen Besen die Ahnenbilder abzustäuben. Es ist ein Festtag dann, zu Mittag gibt es Kartoffelklöße mit Backobst, ah, es ist ein idyllisches Leben hier! Lange halte ich es nicht mehr aus, mein Bester, die Versicherung gebe ich Ihnen. Sorgen Sie, daß man nicht ewig hier bleibt, dann hört auch meine Gefangenschaft auf. Lassen Sie Cholerabazillen im Brunnenwasser sein auf Altenstein, oder setzen Sie einige Dutzend Ratten und Mäuse in die Allerhöchsten Zimmer, lassen Sie den seligen Oberst oder die schöne Spanierin spucken gehen oder den Blitz einschlagen, mir ist einerlei was, wenn es nur die Einwohner hinaustreibt und ich die Dächer der Residenz wiedersehe. Ich kann in dieser Kuhstalluft nicht atmen.«

Sie brach hier wieder ab und wandte den Kopf nach dem Nebenzimmer, wo ein erbärmliches Kinderweinen erklang. Ein bitterböser Ausdruck flog über das volle weiße Gesicht der Lauschenden. »O Gott, ich wollte, daß –« murmelte sie und erhob sich.

»Frau von Berg, die Kleine ist sehr unruhig«, berichtete die Kinderfrau.

»So geben Sie ihr doch Milch, mein Gott, sie wird Hunger haben. Was ist's denn weiter!«

»Sie nimmt nichts, gnädige Frau.«

»So tragen Sie das Kind umher, es muß sich beruhigen.«

»Ich darf das Kindchen nicht herausnehmen, solange es in dem nassen Umschlag liegt, der Arzt hat's ausdrücklich – «

Frau von Berg schleuderte die Feder auf den Tisch und rauschte in das Kinderzimmer.

»Ruhig! Ruhig!« rief sie mit ihrer gellenden Stimme und klatschte, an das Bett tretend, in die Hände. Ihre Augen sahen so drohend aus, so geradezu wütend, daß das Kind verstummte, um nach ein paar Sekunden desto lauter zu schreien. Es klang so ängstlich, so hilfesuchend, dieses Weinen, dass die Kinderfrau von der Spiritusmaschine, wo sie das verordnete Süppchen kochte, herzustürzte, und dass draußen auf dem Korridor plötzlich Schritte erklangen und der Baron Gerold im nächsten Augenblick auf der Schwelle stand.

»Ist Leonie krank?«, war die erste Frage und seine verdüsterten Augen suchten das Kind im Bettchen, das jetzt seine Ärmchen verlangend nach ihm ausstreckte, aber auch ruhig ward.

Frau von Berg war verlegen, aber sie blieb standhaft am Fuße des Bettchens. »Nein«, erwiderte sie, »nur hungrig oder eigensinnig.«