»Aber es war nicht das Schreien eines eigensinnigen Kindes«, sagte er kurz und bestimmt.
»Nun, es ist auch möglich, dass sie sich nicht wohl fühlt«, erklärte die schöne Frau. »Es ist mir schon längere Zeit vorgekommen, als vertrage die Kleine die Luft hier nicht, man denke auch, von dem weichen, lauen Klima der Riviera nach dem deutschen Waldklima, in diese kühle, scharfe Bergluft.«
Er sah sie ernsthaft an.
»Meinen Sie?«, fragte er und dieser Tonfall trieb ihr das Blut in die Wangen. »Ich bedaure nur«, fuhr er gelassen fort, »dass das arme Kindchen da von dem ersten Arzte Nizzas direkt an diese scharfe, kühle Luft verwiesen wurde. Es muss sich nun leider schon daran gewöhnen, denn vorderhand liegt Nizza sowieso außer Frage, da sein Vater gegenwärtig gezwungen ist hierzubleiben. Im übrigen, meine liebe Frau von Berg, scheint ihm die ›kühle, scharfe‹ Luft dennoch recht gut bekommen zu sein. Gestern sah ich, wie das Kind lebhaft durch das Zimmer rutschte und sich an jenem Stuhl dort völlig allein aufrichtete.«
Frau von Berg zuckte unmerklich die Schultern.
»Was will das heißen bei einem zweijährigen Kind?« sagte sie.
»Bleiben Sie logisch, gnädige Frau. Es ist hier davon die Rede, ob das Kind Fortschritte im Befinden gemacht hat oder nicht. Ich möchte Ihnen jetzt noch eine Mitteilung machen, die Sie vermutlich interessieren dürfte. Ihre Durchlauchten, Prinzeß Thekla und Helene, werden in allernächster Zeit auf einige Wochen nach Neuhaus kommen, um sich persönlich von dem Befinden ihrer Enkelin zu überzeugen. Woher mag doch Ihre Durchlaucht wissen, daß der Reitenbacher Arzt mein Kind jetzt behandelt? Haben Sie keine Ahnung?«
Frau von Berg wechselte die Farbe. Sie blieb jedoch ruhig und zuckte die Achseln.
»In meinen verschiedenen Schreiben an Ihre Durchlaucht habe ich nichts davon verlauten lassen«, fuhr er fort und trat von dem Bette an das Fenster, »ich liebe nicht das Hineinreden in die Anordnungen, die ich treffe. Außerdem – Prinzeß Thekla ist Homöopathin und hat alle Taschen voll Kügelchen und Tropfen. Haben Sie wirklich keine Ahnung, Frau von Berg?«
Sie schüttelte den Kopf. »Keine!« antwortete sie.
Er achtete auch nicht mehr darauf, sondern preßte plötzlich die Stirn an das Fensterkreuz und starrte auf die Straße, die sich wie ein weißer leuchtender Streifen am Walde dort drüben hinzog. Da kam ein herzoglicher Wagen im schnellsten Trab gefahren, ein Frauenantlitz ward einen Augenblick hinter der Spiegelscheibe des Fensters sichtbar, dann war die Kutsche verschwunden. Klaudine fuhr nach Altenstein!
Als er sich umwandte, sah er seltsam bleich aus. Frau von Berg musterte ihn mit einem bösen Lächeln um den Mundwinkel. Auch sie hatte den Wagen gesehen. Er bemerkte es nicht, er trat zu dem Bettchen des Kindes, das jetzt schlief, und betrachtete das kleine kränkliche Geschöpf lange Zeit.
Frau von Berg ging mit leisem Schritt in das Nebenzimmer. Er blieb stehen, und allmählich legte sich ein harter, bitterer Zug um seinen Mund. Die alte Kinderfrau hinter dem blauverhangenen Bettchen sah ihn starr an – der Herr mochte wohl das arme Kindchen gar nicht leiden, weil es seiner vergötterten Frau das Leben gekostet hatte? Ja, ja, es kam das öfter vor, daß so ein Würmchen es entgelten mußte! Armes Ding, ein so unschuldiges Geschöpfchen, dem es bestimmt ist, stets mit vorwurfsvollen Augen angesehen zu werden. Armes Ding!
Plötzlich wandte sich der Mann dort am Bettchen und ging mit schnellen Schritten hinaus.
11.
Ja, Klaudine fuhr zu Hofe. Sie saß da in dem Wagen mit dem stillen, stolzen Ausdruck, den ihre Züge gewöhnlich zeigten. Sie hatte heute früh ihren Haushalt besorgt und war dann nach Tisch aus ihrem Aschenbrödelgewand geschlüpft, um das ebenso einfache wie elegante Kleid aus dunkelblauer weicher Seide anzulegen, das sie noch einige Tage, bevor sie um ihre Entlassung gebeten, von dem Schneider zugeschickt bekommen hatte. Es war keine Eitelkeit von ihr, sie war gezwungen, dieses Kleid zu wählen; denn Ihre Hoheit hatte gestern gesprächsweise erwähnt, daß sie schwarze Kleider nicht liebe.
Als Klaudine, um Abschied zu nehmen, zu ihrem Bruder in das Turmzimmer trat, betrachtete er sie verwundert.
»Wie schön du aussiehst!« sagte er stolz und küßte sie auf die Stirn.
Und sie blickte ihn ängstlich und verwirrt an; »ich habe kein anderes Kleid, Joachim.«
»Ich mache dir doch keinen Vorwurf«, erwiderte er freundlich, »ich freue mich nur über die harmonische Wirkung deiner blonden Haare mit dem tiefen Blau. Leb wohl, Schwesterchen, geh ohne Sorgen, Elisabeth ist gut aufgehoben bei Fräulein Lindenmeyer, und ich schreibe. Was zögerst du denn noch, Liebling? Hast du Kummer?«
Sie war wie schwankend ein paar Schritte zu ihm hinübergetreten, und ihre Lippen bewegten sich leise, als wollte sie sprechen. Dann wandte sie sich rasch, murmelte ein »Leb wohl!« und ging. Ihm, dem Träumer mit dem wedchen Gemüt, durfte sie ihre Sache nicht zur Entscheidung vorlegen. Selbst handeln, das ist der einzig richtige Weg.
Aber was in aller Welt sollte sie zunächst tun? Die Herzogin rief, und sie mußte kommen. Wenn sie nicht krank lag, hatte sie keinen einzigen Grund abzulehnen, eine Lüge wollte sie nicht sagen, und die Wahrheit durfte sie ihr gegenüber nicht aussprechen. Und war sie denn nicht am sichersten neben der fürstlichen Gemahlin? In dem Gemache der Gattin durfte keiner der heißen flehenden Blicke sie streifen. Sie drückte das Batisttuch an die pochende Schläfe, als könne sie den Schmerz dämpfen, der dort schon den ganzen Tag wühlte.
Dort unten tauchten jetzt die hochgiebligen Dächer des Altensteiner Schlosses aus den Gipfeln der Bäume, und gerade in diesem Augenblick brach nach langen düsteren Regentagen der erste Goldblitz der Sonne aus den lichter gewordenen Wolken und ließ den vergoldeten Knauf des Turmes aufleuchten.
»Ihre Hoheit haben schon mit Ungeduld gewartet«, berichtete flüsternd die alte Frau von Katzenstein in dem Vorzimmer, »Hoheit wollen von Ihnen ein neues Lied von Brahms hören und haben diesen Morgen zwei Stunden an der Klavierbegleitung geübt. Sie sind schrecklich nervös und aufgeregt, liebste Gerold, es hat einen kleinen Wortwechsel mit Seiner Hoheit gegeben.«
Das junge Mädchen sah fragend in das Gesicht der Hofdame.
»Unter uns, liebste Gerold«, flüsterte diese, »Hoheit wünschten, daß der Herzog heute nachmittag den Tee bei ihr nehme, und er lehnte es rundweg und mit einer Kürze ab, die fast unfreundlich genannt werden kann. ›Wir wollen musizieren‹, sagte Ihre Hoheit schüchtern, ›und ich glaubte, mein Freund, du habest dich gerade im letzten Winter sehr für Gesang interessiert? Ich meine, du hast die kleinen musikalischen Abende bei Mama niemals versäumt?‹ Seine Hoheit antwortete darauf: ›Ja, ja, gewiß, meine Teure, aber augenblicklich – ich habe Palmer zu einem Vortrag befohlen, und da das Wetter besser geworden ist, so will ich mit Meerfeld auf den Anstand heute abend.‹«
Klaudine drehte ihr Notenheft in den Händen; sie war rot geworden und unendlich peinlich berührt durch diesen Bericht. »Wollen Sie mich Ihrer Hoheit melden?« fragte sie.
»Sogleich, liebstes Geroldchen, lassen Sie mich Ihnen nur noch erzählen. Die Herzogin wandte ihm den Rücken und sagte ganz leise: ›Du willst nicht, Adalbert!‹ Und dann ist er ohne Antwort fortgegangen, und sie ist zu tausend Tränen aufgelegt.«
Die fürstliche Frau saß an ihrem Schreibtisch, als Klaudine eintrat, und streckte ihr die Hand entgegen. »Es ist, als ob der Sonnenstrahl, der eben da draußen aufleuchtet, mit Ihnen in mein Zimmer geflogen käme, beste Klaudine«, sprach sie liebenswürdig mit ihrer matten klanglosen Stimme. »Sie glauben nicht, wie einsam man sich bisweilen fühlen kann unter Menschen, selbst unter denjenigen, die uns alles sein sollen. Ich habe vorhin in beängstigender Unruhe mein Tagebuch geholt und darin geblättert, da ist mir leichter geworden. Ich habe doch schon viel, sehr viel Glück erlebt, das tröstet mich und macht mich dankbar. Nehmen Sie Platz. Sind das die Lieder, von denen ich sprach?« Sie ergriff die Noten und blätterte darin. »Ah, richtig – Liebestreue! Sie sollen es mir nachher singen, liebstes Fräulein von Gerold, jetzt möchte ich bitten, eine kurze Spazierfahrt mit mir zu machen, ich sehne mich unaussprechlich nach frischer Luft.«