Leise machte die kleine Prinzeß die Tür wieder zu und flog die breite eichene Treppe hinauf. Oben warf sie sich in einen Lehnstuhl und wollte sich totlachen über das erschreckte Gesicht der Frau von Berg, die auf ihrem gewöhnlichen Platz eifrig schrieb.
»Was haben Sie uns denn eigentlich immer berichtet von diesem Neuhaus, liebste Berg?« fragte sie. »Da war in Ihren Briefen an Mama von weiter nichts die Rede, als von ›durchaus nicht standesgemäß‹, von ›spießbürgerlichen Gewohnheiten‹ und so weiter. Ich finde es reizend, überaus reizend hier, ich werde nicht einen Augenblick die Langeweile verspüren, die man immer zwischen Ihren Zeilen lesen mußte. Und was wollen Sie denn von der Schwester des Barons? Sie ist eine originelle Dame und sieht stattlich genug aus in ihrem grauen Seidenkleid, und was das Kind betrifft, so waschen Sie der Kleinen nur die dichte Schicht Reispuder ab, die Sie auf das arme Gesichtchen gelegt haben, wahrscheinlich um Mama zu rühren. Augenblicklich gleicht es Ihnen, liebste Berg, wenn Sie nämlich schmachtend zu erscheinen wünschen.«
»Durchlaucht!« rief Frau von Berg beleidigt und wurde rot unter der Schminke.
»Ereifern Sie sich doch nicht«, fuhr die Prinzessin fort, »geben Sie lieber derartige Versuche auf! Ich finde es nun einmal reizend hier draußen und werde das meinem Schwager sagen.«
»Da werden Durchlaucht völlig seinen Geschmack treffen.«
»Oh, was Sie meinen, Beste, das weiß ich«, erwiderte die Prinzessin, »aber das ist lächerlich, einfach lächerlich. Heraus mit der Sprache, liebstes Bergchen, wenn Sie positives wissen«, sagte sie siegesgewiß. »Sie begreifen doch, es kann mir nicht gleichgültig sein, wer die Mutter des Kindes« – sie wies nach der Nebentür – »wird.«
»Durchlaucht glauben mir ja doch nicht«, schmollte die Dame und sah vorüber an den funkelnden schwarzen Mädchenaugen.
»Mitunter nicht! Ich weiß indessen ganz genau Wahrheit und Dichtung bei Ihnen zu unterscheiden.«
»Nun, so lasse ich Ihnen die Wahl, Prinzessin«, begann Frau von Berg eifrig, »ob Sie glauben wollen oder nicht. Er –«
»Es ist nicht wahr!«
»Aber, Durchlaucht, ich sprach noch gar nicht!«
»Alice, sagen Sie nichts, es ist nicht so«, rief die Prinzessin fast drohend. »Er hat sie niemals angesehen, er ist ihr geflissentlich aus dem Wege gegangen. Sie wollten etwas anderes erzählen.«
»Gut, wie Durchlaucht befehlen. Sie –«
»Sie ist in anderen Ketten und Banden, ich habe es gesehen«, rief Prinzeß Helene. »Der Herzog –«
»Aber ich habe ja noch gar nichts gesagt«, unterbrach die Berg. »Wenn Durchlaucht so gut unterichtet sind, was soll ich dann noch sagen?«
»Sprechen Sie, Alice«, bat die Prinzessin jetzt, »ist es denn möglich? Mama ist außer sich darüber, ich sehe es ihr an, sie redet kein Wort zu mir, seit wir den Herzog mit ihr im Wagen gesehen haben, und ihre Nase ist spitz, das bedeutet Sturm. Sie wissen es, Alice.«
»Aber die Herzogin fuhr mit, Prinzessin.«
»Ach Gott«, rief diese und schlug die kleinen Hände zusammen, »die arme gute Liesel! Sie schwebt, wie gewöhnlich, in höheren Regionen und sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich wette, Hoheit, meine Cousine, schreibt wieder an einem Trauerspiel, das dann im nächsten Winter zu unser aller Erbauung aufgeführt werden wird. Wissen Sie noch, Alice, vorigen Winter? Aber Sie waren ja in Nizza. Schauerlich! Schauerlich! Drei Tote waren zuletzt auf der Bühne, und ich hörte, wie Graf Windeck zu der Moorsleben sagte: »Passen Sie auf, Gnädigste, jetzt sticht gleich noch der Souffleur den Lampenputzer tot.«
Sie lachte übermütig, die kleine Prinzessin, wurde aber sofort wieder ernsthaft. »Ich bin ihr bei alledem doch sehr gut, Alice, sie ist liebenswürdig, trotz ihrer Romanideen. Arme, arme Liesel! Hätte sie nicht heute neben ihr gesessen, ich wäre aus dem Wagen gesprungen und ihr um den Hals gefallen. Sagen Sie, Alice, wie kann man einen solchen Eiszapfen, wie diese Klaudine, zu näherem Verkehr um sich haben?«
Die Tischglocke erscholl in diesem Augenblick und Prinzeß Helene ließ sich noch in aller Eile die Stirnlöckchen zurecht machen. Auf der teppichbelegten Treppe schritt eben Prinzessin Thekla am Arme des Hausherrn hinunter, als sie mit Frau von Berg und der Hofdame nachfolgte.
»Übrigens, Alice«, fragte die junge Prinzeß leise, »was ist das für ein Herr, der in dem Zimmer wohnt, wo angeschrieben steht »Verbotener Eingang«?«
»Ein Herr, Durchlaucht?«
»Nun ja, ja!«
»Durchlaucht müssen einen Geist gesehen haben.«
»Doch nicht. Ich werde mich bei Fräulein von Gerold erkundigen.« Sie tat es auch sofort, man hatte kaum Platz genommen.
»Das war mein Vetter Joachim, Durchlaucht«, antwortete Beate, und die Suppenkelle schwankte ein klein wenig in ihrer Hand.
»Der Bruder von Klaudine Gerold?«
»Ja, Durchlaucht.«
»Das Eulenhaus ist ja wohl sehr nahe, lieber Gerold«, erkundigte sich Prinzeß Thekla und nahm Salz in die Suppe.
»In einer halben Stunde zu erreichen«, erwiderte er.
»Wenn die gnädigsten Herrschaften befehlen, fahre ich vorüber an der Klosterruine. Sie ist sehenswert.«
»Danke!« unterbrach ihn kühl die alte Prinzessin.
»Danke!« betonte ebenso kühl Prinzeß Helene.
Er sah verwundert von seinem Teller auf. »Durchlaucht werden diesen Anblick kaum vermeiden können, denn unser schönster Waldweg führt an der Ruine vorbei.«
»Ich hoffe, Baron«, nahm Prinzeß Helene das Wort, »ich hoffe, Sie werden mich auf meinen Ritten begleiten. Komtesse Moorsleben ist zuweilen auch dabei.«
»Durchlaucht brauchen nur zu befehlen«, erwiderte er.
Prinzessin Thekla sprach jetzt von einer Milchkur, die sie unternehmen wolle. Sie war mit einem Male sehr liebenswürdig, scherzte mit Lothar über seine idyllische Häuslichkeit und nannte Beate ein Mal über das andere: »MeineTeure«. Niemals hatte sie so schmackhafte Forellen gegessen, und als Lothar sich erhob, das gefüllte Glas mit dem perlenden Champagner in der Hand, für die große Ehre dankend, die ihm durch den Besuch der durchlauchtigsten Großmama zuteil geworden, reichte sie ihm huldvoll die reich beringte schmale Hand zum Kuß und drückte das spitzenbesetzte Tuch einen Moment gerührt an die Augen.
Unter dem Vorwand, sie sei ermüdet, hob sie die Tafel noch vor dem Nachtisch auf und die Damen zogen sich in ihre Gemächer zurück. Frau von Berg durfte noch lange am Bette der Prinzessin Thekla sitzen, und als sie endlich ihr Zimmer aufsuchte, geschah es mit erhobenem Kopfe. Sie setzte dann noch eine Nachschrift unter den nachmittags begonnenen Brief:
»Es ist alles in schönster Ordnung, die Kleine brennt lichterloh in Liebe und Haß. Für wen die erstere Flamme leuchtet, wissen wir, und die letztere flackert für Klaudine.
In wenigen Tagen werden die Bäume im Walde sich eine große Neuigkeit erzählen. Im übrigen, anfangs der nächsten Woche findet hier ein Fest statt. Prinzeß Helene schwärmt von einem Tanz unter den Linden im Garten. Sie hat bei aller Bosheit eine gewisse Gutmütigkeit, so daß man sich bei ihr eines törichten Streiches wohl versehen kann und vorsichtig sein muß!